I.
Wissembourg, das elsässische Grenzstädtchen zur Pfalz ist schlechterdings zum Verlieben. Zweisprachig hat Hannes Wader ihm ein melancholisches Lied gewidmet. Wer es als Tourist besucht (was stets und unbedingt zu empfehlen ist), stößt mittig auch auf das bemooste Relief des ersten namentlich bekannten Dichters deutscher Zunge. Otfrid heißt er, Mönch im damaligen Kloster. Sein Liber evangeliorum, die Geschichte und Ausdeutung des Lebens Jesu umfasst genau 7.106 binnengereimte Langzeilen. Entstanden ist sie zwischen 863 und 871. In der benachbarten Kirche Saints Pierre et Paul hängt hierzu die Nachbildung eines Labyrinths.
Was hat es damit auf sich?
II.
Dieser Otfrid war mir schon länger sympathisch, eines Verses wegen aus dem Eingangskapitel seines Evangelienbuchs zumal: "beschäftige dich angelegentlich mit Literatur", rät er hier: "das schärft deinen Verstand". Beifall gebührt ihm indes nicht allein dafür. Das Über-Setzen aus dem Latein an das Ufer der bisher "unkultivierten" Volkssprache hat ihn programmatisch beschäftigt. "Eine gute Formulierung" zu finden, "die Euren Geist anspricht" – darum wollte sein "Versuch" sich durchgehend mühen. Als Mann des Wortes auf penibler Suche nach dem treffenden Ausdruck für seine Botschaft, deren Quelle "sicher bewahrend" sowohl, wie den Verständnishorizont des Zielpublikums fest im Blick. Im Grunde ein Zeitgenosse also. Und einer, von dem Zeitgenossen (wenn sie denn mögen) durchaus noch mehr lernen könnten.
III.
"Gott hat alles nach Maß und Zahl geordnet", lesen wir im Buch der Weisheit des Alten Testaments (11, 20). Wenn Otfrid daher sein Werk mit komplexen arithmetischen und geometrischen Verweisen durchflicht, stellt dies epochal keine Ausnahme dar. Niemand jedoch ist so planvoll vorgegangen, um in der ästhetischen Gestalt einen Grundriss von Gott gestifteter Ordnung des Seins abzubilden, ebenso unzerstörbar wie die Zahlen und Figuren, beim Leser in der eigenen Seele vorhandene Resonanzen erzeugend überdies. Was lässt sich da alles entdecken und entknobeln! Große Literaten der Moderne noch zeigten sich fasziniert von derlei Prinzip, das Chaos der Wirklichkeit zu bändigen.
IV.
Aber zurück zu Otfrids Labyrinth. Wohldurchdacht, wie alles in diesem Werk, ziert es das Vorsatzblatt der Handschrift, an welcher er wahrscheinlich sogar selbst mitwirkte.
Mit elf Windungen, die sich als konzentrische Kreise um einen offenen Mittelraum legen, vier mehr als bei der überkommenen Basisform, bietet seine Version innerhalb der Überlieferungskette des Symbols etwas Neues. Genau auf jene Zahl wollte er kommen, welche um eins Gottes Gebote über- wie Jesu Berufungen der Apostel unterschreitet: Indiz für die un-richtige, durch Sündhaftigkeit entstellte Welt.
V.
Sein Ursprung verliert sich im Dunkel. Fast so alt wie die menschliche Kultur überhaupt ist das verwirrende Linienmuster des Gangs in einen Innenraum. Rätselhaftes Ur-Schema ritueller Initiation der Begegnung mit sich selbst und/oder einem Höheren, wie es den Anschein hat, verbunden mit der Hoffnung auf Leben nach dem Tod näherhin. Von einer der bekanntesten Sagen des griechischen Altertums her entfaltet sich deren wirkungsgeschichtlicher Schub. Gefangen in einem riesigen Labyrinth haust, unter dem Palast von Knossos auf Kreta, der Minotaurus, jenes Ungeheuer, das unersättlich Menschenopfer vertilgt, bis der Königssohn Theseus kühn den Gang in die Unterwelt antritt, es tötet und die Gefangenen rettet. Mit Hilfe eines abgerollten Wollknäuels seiner Geliebten, dem sprichwörtlich gewordenen Ariadnefaden, findet er (als erster überhaupt) aus dem steinernen Irrgarten wieder heraus.
VI.
Manch anderem frühen Mythos gleich wurde auch dieser christlich getauft und einer entsprechenden Interpretation unterzogen. Handschriften und Sakralbauten von der Spätantike zum Früh- und Hochmittelalter übernehmen das Motiv, mit der Kathedrale von Chartres als großflächigem Höhepunkt.
Theseus präfiguriert nun Christus, der in jene "unentwirrbar", ohne Chance auf Entkommen verschlossene Welt des Todes einbricht, sie öffnet und unsere dort umherirrende Seele befreit: labyrinthum ingressa est errabunda, wie es in einem von Origenes überlieferten Hymnus heißt. Die Erlösung durch den siegreichen Gottmenschen während seiner irdischen Wirksamkeit: das ist der Gegenstand von Otfrids Evangelienharmonie.
In den leeren Raum der Mitte des Labyrinths dort trug nachmals jemand verdeutlichend die Buchstaben "PAS" ein, deren allegorischer Zahlenwert - 34 - just dem Lebensjahr entspricht, in welchem Christus gekreuzigt wurde. Seine Passion bahnt den Weg heraus aus dem Labyrinth, setzt die Rückführung der Menschheit zu Gott ein. Nicht nur durch gleiche Farben besteht zwischen dessen Wiedergabe zu Beginn und einer weiteren Miniatur der Wiener Handschrift, dem Geschehen auf Golgatha, optische Korrespondenz. Beide sind in ihren Maßen exakt deckungsgleich, könn(t)en daher übereinander gelegt werden. Das Kreuz ist dem Labyrinth einschreibbar. Der aussichtslos verstrickten Welt wird das Zeichen ihrer Überwindung aufgeprägt – der Weg durch sie hindurch, aber auch zu einer leidensbereiten Nachfolge. Spätere liturgische Bräuche wie die Auferstehungsfreude durch einen Ostertanz über eigens auf dem Boden markiertem Gewirr widersprechen dem nicht.
VII.
Fünf Jahrtausende übergreifend, von der Protohistorie bis zur Postmoderne, ist das Labyrinth mächtiges kryptographisches Bild für die menschliche Befindlichkeit geblieben: einer Reise mit ungewisser Route und Zielerreichung aus eigener Kraft, voller Kehren, Umleitungen und Sackgassen - der Sehnsucht nach dem Entkommen daraus nicht minder. Vielfache Einzel-Codierungen vermögen sich hier anzulagern, inwendige wie äußere Distrikte betreffend, wo das Rätsel Normalität scheint: sei es in der Verständigung mittels Sprache, sei es in den Fallen der Liebe, sei es in der Kontingenz jeden einzelnen Tages, sei es (angesichts von alledem) im bloßen Spiel.
Kaum zufällig gerade auf klösterlichem Gelände sind zuletzt Labyrinthe neu errichtet worden, kombiniert mit Natur-Elementen teils (anderen auch, bis hin zum Stacheldraht), und so für weitere Bedeutungen produktiver An-Stößigkeit dieses Existenz-Gleichnisses offen. Gesammelt können Besucher dort sich auf die Suche nach einer, ihrer oder der Mitte einlassen, nach zeichenhafter Selbst-Findung und womöglich -Überschreitung. Bei der Route zur Transzendenz nämlich handelt es sich zwar um einen geistigen Prozess, sinnenhaft repräsentierbar aber bleibt sie gleichwohl.
Auch das scheint Otfrid von Weißenburg verstanden zu haben.