Lässt sich von "dem Christentum" überhaupt sinnvoll sprechen? Oder bezeichnet dieser Begriff immer nur eine Pluralität von wechselnden Erscheinungsformen – bis über jene Grenze hinaus, wo die Konturen verschwimmen? Wäre es damit aller Kritik an möglicher Aushöhlung enthoben? Das Buch eines Philosophen der Nietzsche-Zeit befeuert hier gewisse Zweifel.

I.

Intellektuell war man in Deutschland schon vor 1900 mit dem Christentum fertig. David Friedrich Strauß und Nietzsche sind nur die bekanntesten Namen dieses Schlussstrichs, mag er auch nach den beiden Weltkriegen jeweils vorübergehend etwas ausgeblichen sein. Ein gleichgestimmter Diagnostiker, der in diese Reihe gehört, ist wohl weniger bekannt: Eduard von Hartmann. Sein Urteil steht unter einem Schlagwort, das mir stets neu zu denken gibt.

Nicht nur von außen gerät der überlieferte Glaube demnach unter Druck. Fast mehr noch löst er sich parallel von innen auf. Eine Selbstzersetzung des Christentums findet statt. Auf dem Wege der Anpassung seiner Substanz an die als tonangebend erachtete Umwelt greift sie Raum: durch Aussortierungen, Neubestimmungen und Hinzufügungen.

II.

Zu seiner Zeit, dem Kaiserreich, war Hartmann über die Fachgrenzen hinaus ein prominenter Philosoph in der Nachfolge Schopenhauers. Dessen Pessimismus kreuzte er mit Impulsen idealistischen Denkens wie der Evolutionstheorie. Nietzsche mochte ihn nicht besonders, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Mit seinem erfolgreichsten Buch, einer voluminösen Philosophie des Unbewussten, die zwischen 1869 und 1923 zwölfmal erweitert aufgelegt wurde, verbindet sich für Kenner sein Name bis heute. Analytikern wie Freud und Jung arbeitet sie vor.

III.

Nimmt man Hartmanns zuletzt 1888 erschienene Religionskritik wieder zur Hand, stößt man dort auf manch allzu selbstbewusst Kämpferisches. Bis heute höchst nachdenkenswert aber bleibt die Auseinandersetzung mit jenem "modernen Christentum", das er in seiner damals noch rein akademischen Phase des Werdens unter die Lupe nimmt.

IV.

Zunächst konfrontiert die titelgebende Devise mit der Frage nach dem Begriff selbst. Gibt es, situativer Aktualisierungen ungeachtet, so etwas wie eine unhintergehbare Basis, die sinnvolles Sprechen davon überhaupt erst ermöglicht – oder haben wir es immer nur mit individuellen und historischen Phänotypen "des Christentums" zu tun? Handelt es sich letztlich um ein allemal mit Attributen zu versehendes Substantiv im Plural ohne Grenzen?

Bleibender "Grundsteine", meint Hartmann, bedürfe jedes wiedererkennbare Haus, auch wenn es renoviert oder umgebaut werden muss.

V.

Ausgehend von frühen, in sich "sehr verschiedenen Glaubens- und Lehrstandpunkten", die wenig mit der in ihrer Originalität von ihm heftig bestrittenen Predigt Jesu zu tun gehabt hätten, beobachtet dieser Philosoph einen Formierungsprozess mit dem Höhepunkt der Gestaltwerdung im Hohen Mittelalter bei Thomas von Aquin.

Bis zur Moderne hin folgen dieser nicht nur diverse Ausdifferenzierungen, sondern eine Bewegung, die vermehrt in Distanz zu dem geht, was einmal galt. Position um Position werde nun verschoben oder geräumt, auch wenn man darauf weiter das "christliche" Schleifchen binde. Auf Identifizierbarkeit von selbst im Umbruch beständig Dazugehörendem pochend, nimmt Hartmann sich das Recht, hier eine "Verfälschung" zu gewahren.

VI.

Ohne Bezug auf die Transzendenz ist für ihn kein Christentum denkbar. Mit der eingetretenen Wende des "modernen Lebensgefühls" jedoch, weg von dem "Einen, was nottut", der Sorge für das "ewige Heil der Seele", zugunsten ungeteilter Dominanz "weltlicher Interessen", gäbe es keinen Raum mehr für sie. So Hartmanns eröffnende These. Angesichts des Stands moderner Rationalität seien (als dessen unverzichtbare Stützpfeiler Nummer 2, 3 und 4) auch jeglicher Theismus, das Walten eines "personalen" Gottes samt Berufung auf dessen Offenbarungen oder Weisungen sowie der Glaube an einen "Erlöser" unhaltbar geworden.

Darauf ließe sich bipolar vermittelnd antworten, gewiss, mit einer Theologie der "Welt" etwa und der biblisch grundgelegten Verantwortung für letztere, welcher die anthropologische Wende des (naja:) geläuterten Selbstverständnisses entspräche. Einfach beiseite wischen lässt sich der von Hartmann vorgebrachte Punkt damit aber nicht. Sind (wie auch zu seinen anderen Aspekten) "Christentümer" – und wäre es `nur´ in der Rochade von Vorrangigkeiten – (erheblichen)teils nicht tatsächlich in entgegengesetzten Richtungen unterwegs? Sodass unter dem gleichen Label plötzlich ein anderes Produkt firmiert, welches den wiedererkennbaren Kern verschoben hat: weil das Interesse dafür ebenso schwindet wie seine Überzeugungskraft?

VII.

"Mumifiziert" Katholisches scheint Hartmann geistig nicht mehr der Rede wert. Sein Befund der Selbstzersetzung des Christentums – "allerwärts vom kritischen Zeitbewusstsein durchlöcherter und zerfressener" Ruinen "ehemaligen Reichtums" (wie er als dessen Gegner anerkennt) –, zielt auf den liberalen Protestantismus, eine in der Freiheit ihrer Setzungen entschieden Modernität beanspruchende Glaubensrichtung. "Unchristlichkeit" attestiert ihm der Philosoph jedoch, "Irreligiosität" nachgerade.

Nachdem man dort "mit allen inhaltlichen Dogmen des Christentums redlich Kehraus gemacht" habe, beharre man, höchst selektiv herausgepickt, gleichwohl auf einem "letzten dürftigen Rest", "zusammengeleimten Fetzen missdeuteter biblischer Aussprüche", und verbreite ungeniert "moderne Kulturideen unter christlicher Flagge segelnd".

VIII.

Doch lässt sich dieses Banner ohne das Outing von Piraterie (fern eines sicheren Heimathafens) überhaupt noch hissen? Was man zu erbeuten bestrebt ist, entspricht jedenfalls weithin dem aktuellen Horizont des Diskurses. Unter ihm sich einzufinden, so Hartmann, sei zur Hauptsache geworden. Das behauptete "Christentum" gehe in der Rolle eines volltönenden Akteurs von Humanisierung auf.

"Ermahnungen zur Fairness" absondernd, "zum anständigen Leben" etc. pp.: Derart nimmt ein halbes Jahrhundert später Kurt Tucholsky institutionelle Christlichkeiten aufs Korn, die, gepeitscht von "irrer Furcht", den Anschluss zu verlieren, "atemlos jappend" ständig "hinter der Zeit her" hechelten. Auf kein Eigenes mehr zeigten sie. Bis hin zum unscheinbarsten Detail komme es vielmehr zur Aneignung von dem, was "andere geschaffen" hätten – "Wir auch!" rufend: "Wir auch!"

Derlei "Aushöhlung" des Christentums aber, seine bloß noch auf gesellschaftlich Nützliches bedachte Selbstverkrümmung, macht ihm (wie schon Hartmann) zufolge, dessen "innere Leere und religiöse Dürftigkeit" offenkundig.

IX.

Haben sie recht? Probeweise ließe sich mit ihrer Brille immerhin prüfen, was in den öffentlichen Äußerungen verschiedener System-Autoritäten heute am "Christentum" hervorgehoben wird. Stieße man – ohne dass übrigens die Lust auf es wüchse – hier nicht tatsächlich auf allzu viel des Eingängigen unter dem Himmel des sozialen Wandels? Auf das Andocken bei Gemeinplätzen, zu denen es tatsächlich keinerlei Religion mehr braucht?

Um lern- und zukunftsfähig zu bleiben. Ich weiß. Und man wolle doch niemandem irgendwelche Glaubensinhalte überstülpen. Schon klar. Doch where's the beef? Sieht so eine Wahrheit aus, für die man leben und in der man sterben können sollte, wie der junge Kierkegaard schrieb?

X.

Der von ihm vorgebrachten Kritik ungeachtet, bejaht Hartmann "das entschiedene Bedürfnis nach einer zeitgemäßen Befriedigung" des "religiösen Gefühls" (das trotz rundum kolonisierender Rationaliät unantastbar bleibe). An der vorherrschenden Mentalität seiner Zeit tadelt er deren Neigung, "alle Probleme so plan und platt zu finden, wie ihr eigenes Verständnisvermögen ist". Ein Wortlaut, der klassisch zu werden verdient!

Etwas wie "Religion der Zukunft" mithin muss her. Auch um jene Leerstelle auszufüllen, welche die "Verseichtung" des Christentums hinterlasse, dessen "Lebensbahn" nun bis zum Ende durchlaufen sei. Umrisse hierzu skizziert der Autor am Ende des schmalen Buchs: als große ostwestliche Synthese unter dem Vorzeichen des "All-Einen", dem gegenüber Ergebung möglich wäre, ohne "sich über das Elend des Daseins hinwegzutäuschen". "Panmonotheismus" nennt Hartmann sie.

XI.

Für Glaubenswelten allerdings gilt, dass sie sich a) nicht eben zusammenbasteln lassen, und b) letztsinnig wohl keine mehr sind, wenn ihre "Bausteine" konstruktivistisch oder funktionell durchschaut werden.

Ansonsten bleibt nach der erneuten Hartmann-Lektüre die Frage, was "dem Christentum" zeitübergreifend konstitutiv zugehöre, worin (gäbe es sie denn überhaupt) diese Herzmitte eines lebendig pulsierenden Organismus bestünde. Zugespitzt – alias entsetzlicherweise? – wäre vielleicht zu ergänzen: jene auch nach reflektierter christlicher Dissidenz.

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