I.
Vielfach ist die Geschichte der modernen Kunst eine des mitunter vertrackten Bewahrens christlicher Elemente. Gedächtnis damit auch, aus dem Unerledigtes zutage tritt. Besonders hartnäckig zeigt sich das Muster der Passion. Als Folie für Darstellungen menschlichen Leids scheint es weithin unüberbietbar.
Womit ich bei Frida Kahlo wäre, einem hierfür besonders bemerkenswerten Beispiel.
II.
Entgegengesetzte Prägungen stehen am Anfang. Treue Katholikin ist die mexikanische Mutter, der aus dem badischen Pforzheim stammende Vater hingegen vollkommen a-religiös. Streng im Glauben wird die Tochter erzogen. Während der mexikanischen Revolution wendet sie sich vehement davon ab. Zeichenhaft erhellt der nunmehrige Wille zum Atheismus aus dem nachgetragenen Kommentar zu ihrem Erstkommunion-Foto. "Idiota" kritzelt die junge Frau lapidar auf die Rückseite.
III.
Ihrer Malerei freilich schreibt sich der radikale Bruch keineswegs ein. Für regionale Votivbilder etwa behält sie eine Vorliebe. Über 400 solcher Retablos schmücken die Wände des Hauses von Frida Kahlo und ihres Künstlerkollegen/Ehemanns Diego Rivera, der Casa Azul in Coyoacán.
Höchst drastisch halten diese kleinformatigen Tafel-Malereien allerlei Gefahren fest, Krankheiten, Unfälle, Anschläge, aus welchen die Stifter gerettet wurden. Engel und Heilige, Christus wie Gottvater selbst erscheinen am Himmel: die Vorstellung einer Welt, in der Überirdisches hilfreich gegenwärtig ist.
IV.
Jene Praxis katholischer Volksreligiosität mit quasi surrealem Einschlag befeuert Frida Kahlos Inspirationen. Bis in Details hinein setzt sie Motive der Ex-Votos fort. Wichtige Werke legen Zeugnis davon ab: so Ein paar kleine Dolchstiche (infolge Liebesverrats), oder (nach einer Fehlgeburt) Henry Ford Hospital. Eigenes Leiden ist in ihren Arbeiten allgegenwärtig. Im Unterschied zu den Retablos aber bleibt Gott abwesend.
Gleichwohl wimmelt es von ikonographischen Anspielungen auf Christliches. Frida Kahlo bedient sich sozusagen der Bildsprache einer von ihr abgelegten Religion. Resonanzräume werden hier wach, die buchstäblich an-stößig sind. Vielleicht der eindrucksvollste Beleg dafür ist Die gebrochene Säule.
V.
Bei einer Karambolage wird die Achtzehnjährige schwer verletzt. Eine Haltestange des Busses, in dem sie sitzt, durchbohrt das Rückgrat und zerschmettert ihr rechtes Bein (welches aufgrund von Kinderlähmung bereits früher beeinträchtigt war). Nicht weniger als 33 Mal muss Frida Kahlo sich in der Folge einer Operation unterziehen. Den Großteil ihres gebrechlichen Lebens bleibt sie ans Bett gefesselt. Schmerzfreiheit ist nurmehr die Ausnahme.
VI.
Knapp zwei Jahrzehnte nach der Katastrophe entstanden, stellt Die gebrochene Säule eine Bestandsaufnahme des eigenen Zustands dar. Entlang ihres in seiner Blöße ungeschützten, wie schlampig seziert geöffneten Oberkörpers ist das Rückgrat der dargestellten Person (unverkennbar Frida Kahlo selbst) als vielfach geborstener Steinpilaster zu sehen. Der antike Typus mag dabei auf ein lange schon zurückreichendes Verhängnis deuten. Nur mehr behelfsweise wird die vollständige Zerlegung aufgeschoben, artifiziell, durch das gebänderte Stützkorsett. (Kurz zuvor war der Malerin, bisher an andere Materialien gewöhnt, erstmals eines aus Stahl verordnet worden.)
Unterschiedlich dimensioniert, übersäen Nägel den ganzen Körper und das Gesicht, wie eine Dreingabe zu ihrem Leid, das die dargestellte Frau allerdings nicht versteckt, sondern es demonstrativ ausstellt. Auch wenn die Miene kaum eine Regung erkennen lässt, laufen Tränen reichlich über ihre Wangen. Wie appellativ, im Willen zum Wahrgenommen-Werden, richtet sich der Blick fest auf den jeweiligen Betrachter. Ecce homo! Näherhin: Ecce femina! Was ist ein leidender Mensch für dich? Hältst du seinen Anblick aus? Welche Reaktionen ruft er in dir hervor, welche Bewältigungen hast du parat?
VII.
Trotz seiner desolaten Verfassung sind Reste der sinnlichen Schönheit des Körpers immer noch augenfällig – in den Brüsten zumal –, wenngleich er mit dem angedeuteten Schnurrbart fremdbestimmenden Idealen wohl gar nicht entsprechen soll. Auch dies unterstreicht ein Bestreben, im Nicht-Ertragbaren Selbstbehauptung zu bewahren, Würde. Hinzu kommt das weiße, wie der Chirurgie entlehnte Laken. Die Frau hält es, um ihren Unterkörper zu verhüllen, ihn vor dem voyeuristischen Blick zu schützen eventuell.
VIII.
Nägel und Lendenschurz lassen kaum zufällig christliche Bilderwelten anklingen. Erstere sind Instrumente von Jesu Passion wie der Tortur mancher Heiliger. So ruft das Gemälde Vergegenwärtigungen des Mannes "voller Schmerzen" auf, mit einem Leinentuch umgürtet üblicherweise, vor welchem "man das Angesicht verbarg" (Jesaja 53, 3). Oder jene des an eine Säule gebundenen und mit Pfeilen gespickten Sankt Sebastian, dessen Körper selbst unter der Folter noch begehrenswert bleibt. Als den eines Märtyrers präsentiert Frida Kahlo ihren eigenen. Nur duldet sie nicht unter dem Vorzeichen des Glaubens – dessen zentrale Erzählung äußerlich jedoch noch Artikulations-, ja Identifikationspotenzial birgt.
IX.
Das Selbstporträt ist ein bevorzugtes Genre dieser Künstlerin. Sonst oft mit Wesen der Natur zusammen, tritt sie hier völlig verlassen in Erscheinung, allein ihren Qualen ausgesetzt. Solchen auch, die sich zunächst nicht erschließen. Auf Untreue ihres berühmten Mannes nämlich, dessen ständiges Fremdgehen, mögen die Nägel noch verweisen. Estar clavado ("genagelt/gekreuzigt werden"): Im mexikanischen Spanisch kann dies auch den Betrug des Partners bezeichnen. (Gegen derlei Antastbarkeit scheint das freie Ausleben der eigenen Sexualität keineswegs abzuhärten. Im Falle Frida Kahlos jedenfalls verhält es sich so.)
X.
Sein visuelles Echo erfährt der klaffende Riss durch den Körper der Frau hintergründig in den Furchen einer unfruchtbaren, verschluchtet-abgründigen Landschaft, als habe die Erde gebebt. In sie hinein (oder aus ihr heraus) spiegelt sich ihre Pein. Es ist die Befindlichkeit der gesamten Welt, welche offensichtlich der Heilung bedarf – oder wenigstens auf die Suche nach Sinngebung drängt.
XI.
All der Verletzlichkeit und Verletztheit zum Trotz, welcher sie ausgesetzt ist, vermittelt die dargestellte Person zugleich einen Ausdruck von Stärke, ja Hoheit. Etwas sie der andauernden Pein Enthebendes scheint ihr gegeben. Mag der Körper zwar aufs Äußerste deformiert sein, bleibt die Gegenwehr des Geistes doch unversehrt. "In eine Heilige verwandelt" gleichsam (Kahlo über Kahlo), die sich über ihre Schmerzen aufgeschwungen hat. Andere Porträts, auf denen der Resplandor, ein Kopfschmuck indigener Tehuana-Frauen, ihr Gesicht wie auratisch einrahmt, stimmen dazu.
Das Haupt, emporgerichtet in (wenn auch eher lichtarm) blaue Weite sowie Augenbrauen nach dem Umriss eines Vogels deuten Träume vom Sich-Aufschwingen aus der physischen Gebrochenheit an. "Wozu brauche ich Füße", so die Künstlerin einmal, "wenn ich Flügel habe?" Hoffnung, die in eine bessere Zukunft verbürgen würde, hat Frida Kahlo noch bis kurz vor ihrem Tod mit 47 Jahren. Der Marxismus verwandle jegliches Leid: er werde die Kranken heilen. Erlösungsgeschehen, aufs Profane geschrumpft zwar, als Entwurf an sich indes unabdingbar.
XII.
Rund um den Globus haftet Frida Kahlo einer der berühmtesten Künstlermythen unserer Zeit an. Nachgerade zur Ikone geworden sei sie. Wenn man so will, bricht sich darin, auf ironische Weise, posthum noch jener Katholizismus, von dessen Imaginationen das eigene Werk durchsetzt ist. Sein und Bewusstsein des Menschen lassen sich nie verstehen, wo der Stachel ihm einverwobenen Leids ausgesperrt bleibt. Davon nicht zuletzt zeugt das grandiose Bild von der gebrochenen Säule.