Stille Nacht? Von wegen! Ausdrücklich geräuschvoll verläuft eine Aufführung im Kabarett der Dadaisten, am Ende sogar lärmend. Weihnachten wird zum befremdlichen Geschehen. Etwas tritt zutage, das vom Anlass des Christfestes nicht abzulösen ist und dessen Verkürzungen widerspricht.

I.

STILLE NACHT.
DER WIND: f f f f f f f f f fff f ffff t t
TON DER HEILIGEN NACHT:
hmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmm-
DIE HIRTEN: He hollah, he hollal, he hollah.
Nebelhörner. Okarina – – – – crescendo. (Steigen auf einen Berg)
Peitschenknallen, Rufe.
DER WIND: f f f f f f f f f f f ffffffffffffffffffffffffffffff t. …

Usw. usw., sechs Kürzest-Akte noch.

II.

Wo sind wir hineingeraten?

In Weihnachtliches der besonderen Art jedenfalls: Ein Krippenspiel / Bruitistisch. Geschrieben von Hugo Ball, zur Aufführung gebracht am 3. Juni 1916 im Cabaret Voltaire Zürich, Spiegelgasse 1, mitten während des Ersten Weltkriegs, durch ihn selbst und sechs befreundete Künstler der ein paar Monate davor entfachten DADA-Bewegung. Hans Arp etwa gehörte dazu, Emmy Hennings (Balls spätere Frau), oder Tristan Tzara.

III.

Ungewöhnlich sind Datum und Ort für das Thema, ungewöhnlicher noch die Machart. Nein, "still" ist diese Nacht nicht, ein verständlicher Text aber bleibt Fehlanzeige. Rein akustische Effekte stattdessen, bloßes Vokal- und Konsonanten-Gemisch. Klang- und Lautgesten, auf verschiedenartige Weise erzeugt. Von Stimmen wie Körpern, Menschen zugehörig, auch Tieren, kosmischen Akteuren gar: Nacht, Wind oder Stern (in graphisch gedachter Entsprechung: "Zcke, zcke, zcke, zzccke, zzzzzcke, zzzzzzzzcccccccke zcke psch, zcke ptsch, zcke ptsch, zcke ptsch"). Das Gebet des heiligen Paares ("ramba ramba ramba ramba ramba – m-bara, m-bara, m-bara, -bara- ramba bamba, bamba, rambababababa") bildet keine Ausnahme, ebenso wenig die Litanei des Engels ("do da do da … dorum darum …"). Für den vor sich hin "schmatzenden Säugling", ihr Kind, pfeift Maria ein bekanntes deutsches Wiegenlied. Diverse Instrumente kommen schließlich hinzu, Gebrauchsgegenstände nicht minder wie Hervorbringungen des technischen Fortschritts. Ein phonetischer Teppich alles in allem, ausladend geknüpft.

IV.

Bruitistisch lautet das Adjektiv im Titel. Dort, wo diese musikalische Richtung aus dem Geist des Futurismus ein paar Jahre vorher aufgekommen war, Rumorismo benamst. Alltagsgeschalle als elementare Ausdrucksform des Lebens, mit eigens dafür gebauten Instrumenten: "Heulern", "Brüllern" (oder "Dröhnern"), "Klirrern", "Knisterern" (oder "Scharrern"), "Knallern" (oder "Knatterern"), "Summern", "Gurglern" und "Zischern". (Doch, so heißen die tatsächlich!)

Ein "Konzert" nennt Ball denn auch sein Werk. Simultan sollen die "Orchestermitglieder" ihre Geräuschpartitur umsetzen, im dunklen Raum wie Schattenspieler hinter einem weißen Vorhang verborgen. Erst von Szene VI an leuchtet eine Kerze auf.

V.

Seine Handhabung des eher dem frühen Alter gemäßen Genres deutet auf Balls "neu erfundene" Lautgedichte voraus. Am gleichen Ort drei Wochen später fand deren erstmalige Rezitation statt. Das entstellend "preisgegebene" Wort, die "beschmutzte" und "zur Ware gewordene" Sprache: Sie werden hier zur Implosion gebracht, um eine schöpferische Perspektive auf die Schwingungen von Wirklichkeit freizusetzen, der Dinge möglichen Kern.

Beide Male vorhanden sind religiöse Bezüge. Verblüfft nahm der Autor wahr, dass er beim Vortrag seiner "Verse ohne Worte" in rituelle, ja liturgische Fahrwasser geraten war. "Unbewusst" habe er "die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation" angenommen, gewandet als "magischer Bischof" überdies. Aus seiner strenggläubigen Sozialisation – vier Jahre zuvor auch formell verabschiedet – waren sie ihm vertraut. Später witterte Ball gar, dass die Silbenfolge DADA die doppelte Anrufung des Dionysius Areopagita enthielt, einer zentralen Gestalt christlicher Mystik.

VI.

Bizarr ist das im bruitistischen Krippenspiel angewandte Verfahren, lustig mithin. Ein Jux, so mag es zunächst scheinen, sein sujet degradierend. Doch unbestreitbar komische Anteile gewinnen nicht die Überhand. Beim Premieren-Publikum jedenfalls war es so. Selbst Ball zeigte sich davon überrascht. "Die Ironien hatten die Luft gereinigt", lesen wir in seinem Tagebuch: "Niemand wagte zu lachen. In einem Kabarett und gerade in diesem hätte man das kaum erwartet. Wir begrüßten das Kind, in der Kunst und im Leben."

Mehrsinnig bekundet sich hier die vertrackte Kombinatorik des Dadaismus. Der Bruch mit jeglicher Konvention seiner Wiedergabe duldet keine routinierte Aneignung des sakralen Geschehens. Weihnachten wird zum befremdlichen Akt. Das jedoch ist allemal produktiv.

VII.

Eine durchgehend homogene 'Aussageabsicht' gibt es nicht. Wie durchblitzt sind die Szenen von wechselnden oder Doppel-Codierungen. Verstörende Umstände der Gegenwart überblenden die Handlung. "Parlez vous francais, messieurs", fragt (als einziger der `korrekten´ Sprechweise `mächtig´) Josef die ankommenden "Weisen aus dem Morgenlande". Was sie ihm zu sagen haben, beginnt mit einer stockenden Vokal-Tonleiter ("Ah, eh, ih, ohm, uh …") und läuft aus in langes "Ahhhhhhhhhhhhhhhh!" Es ist wie bei den einander bekämpfenden Völkern: die Verständigung scheitert.

Vor allem aber was vom Himmel hoch herkommt, erinnert an diesen Hintergrund. Nicht etwa "große Freude" löst das Erscheinen des Engels aus, sondern Furcht, und weitaus heftiger als jene, die er gut biblisch zu zerstreuen hätte: "Propellergeräusch" ("leise anschwellend, tremolierend, bis zu erheblicher Stärke, energisch, dämonisch"). Flankiert durch unerträgliche Grelle, einen "LICHTAPPARAT: flutet weiss weiss weiss weiss weiss", jenen "Glanz des Herrn" ersetzend, der die Hirten Lukas (2,9) zufolge umstrahlt, bricht bei seiner "Ankunft" ein "Zischen, Zerplatzen, Bündel von Licht in Geräuschen" los. Gefolgt vom "FALLEN ALLER MITWIRKENDEN". Dann "plötzliche Stille: – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –"

Wie der Einsatz eines Kampfflugzeugs mutet das an. Ein Bild der Vernichtung macht sich breit, des Tods (ebenfalls 'auf dem Felde') infolge progressiver Kriegstüchtigkeit. Das biblisch verheißene Heil kollidiert mit Aktualitäten von 1916, dem Jahr zum Beispiel auch der andauernden Hölle von Verdun. Derlei Wendung ins Schockierende steigert sich weiter – und mehr als bloß der zeitgeschichtlichen Situation ist sie geschuldet.

VIII.

"Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf", heißt es im Prolog des Johannes-Evangeliums (1,11). Lukas, so schien mir immer, übersetzt dies als Herbergslosigkeit und Krippe. Dass freilich von solcher Abfuhr Gottes durch die Menschen zu Weihnachten die Rede wäre, und sei es nur am Rande, habe ich niemals weder gehört noch gelesen. Man könnte darüber ja verstimmt sein. Oder erschrecken. Ernst und Selbstbefragung jedoch würden die Stimmung zum Fest stören, eine uns genehme Niedrigschwelligkeit der Frohen Botschaft unterlaufen.

IX.

In der letzten Szene (DIE PROPHEZEIUNG) kippt das dadaistische Krippenspiel vollends: "Plötzliche Hammerschläge. Nageln. Rattern. Klappern." Der Blick weitet sich auf die Zukunft des Neugeborenen hin, sein qualvolles Ende. Lichtapparat rot. Rufende Knechte auf Golgatha (wo wir uns nun befinden) klingen dabei kaum zufällig exakt wie zu Beginn die Hirten. Was präsente Pharisäer absondern, enthält viermal die Silbe "bum(m)". Kontrapunkiert wird solch gewalttätiger Lärm durch "Klagelaute Marias", "sehr schmerzliche" Tonlagen der Tiere, der Könige auch.

Gottes Menschwerdung nimmt Kurs auf das Kreuz. Die Mutter des Kindes schaut es bereits – und darüber hinaus. Das dem Spiel-Manuskript beigegebene Blatt mit einer Inhaltsangabe entlang der Evangelien ist nach dem Zitat Lukas 2, 19 entsprechend deutlich: "Maria aber bewegte all diese Worte [!] in ihrem Herzen. Und sie sah einen Berg und drei Kreuze aufgerichtet. Und sah ihren Sohn verspottet und mit einer Dornenkrone gekrönt. Und sie kreuzigten ihn. Aber sie wußte, daß er am dritten Tage wieder auferstehen werde, verklärt." Dazu, fordert die Regieanweisung, habe der Geräuschpegel massiv anzuschwellen: "Johlen der Menge … Nageln und Schreien. Dann Donner. Dann Glocken."

Das szenische Geschehen selbst schließt mit einem Vers, der wie einem alten Kirchenlied nachgebildet scheint: "Und da er ward gekreuziget / da floss viel warmes Blut."

X.

Vormals war die Verbindung von Krippe und Kreuz keineswegs anstößig. Seit dem 14. Jahrhundert gibt es Malereien, auf denen, um die Madonna mit dem Kind gruppiert, Engel Jesu(s) Passionswerkzeuge zeigen. Und ähnlich wie bei Ball ahnt Maria in Tarquinio Merulas Wiegenlied von 1638 (Canzonetta spirituale sopra alla nanna) während einer zärtlichen Betrachtung seiner Glieder das kommende Leiden ihres Söhnchens: "eh mit lauter Stimm dem Vater / du am Kreuz die Seel zurückgibst". Erst als es einschläft, endet das Weinen des bambino.

XI.

Je bürgerlicher Weihnachten geriet, je jetztzeitiger hernach, desto gründlicher entschwand dieser Zusammenhang. Ausgerechnet ein ästhetischer Grenzgang der Dadaisten stößt uns in expressiver Dichte und Intensität herausfordernd darauf. So vermag nicht zuletzt eine Verweigerung geläufiger 'Semantiken' christliche Sinnhorizonte zu erschließen, deren Mitte sogar.

XII.

Als Postskript dies noch vielleicht: Sieben Jahre nach dem Krippenspiel schreibt Ball (zur Kirche zurückgekehrt inzwischen): "Die Sprache Gottes ist höchster Begriff. Wir begreifen nichts mehr. Wie sollten wir noch denken können? Des Übernatürlichen Kompass zeigt nach dem Herzen. Wir aber haben mit dem Herzen auch den Kopf verloren."

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