"Christ ohne Kirche"Ignazio Silone will keiner machtkonformen Gemeinschaft angehören

Ein Autor mit Widerhaken. Daherkommend wie unser schlechtes Gewissen. Vormundschaft über das praktische Urteilsvermögen Glaubenswilliger hält er für ein Unding. Und überhaupt täte mehr Abstand zu hegemonialen Attitüden not. Solchen der Politik nicht zuletzt.

Ignazio Silone und seine Frau Darina 1969 auf Jerusalems Internationaler Buchmesse
Ignazio Silone und seine Frau Darina 1969 auf Jerusalems Internationaler Buchmesse, wo ihm der "Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft" verliehen wurde.© Dan Hadani collection/Wikimedia Commons

I.

Fernsehen bildet. Zumindest war das vormals gelegentlich so, in einer sagenhaft anmutenden Ferne. Nein, ich behaupte nicht, ehedem sei alles besser gewesen. Das öffentlich-rechtliche TV-Programm in Deutschland aber schon. Manches, was mich anhaltend beschäftigt, verdanke ich diesen Zeiten.

Schier unglaublich mutet an, was an intellektuellen Glanztaten dunnemals noch über den Bildschirm flimmerte. An Allerheiligen 1973 im ZDF ein komplex herausforderndes Dokumentarspiel über Alfred Delp etwa (Im Angesicht des Todes von Helmut Andics). Oder (zweieinhalb Jahre früher) Das Abenteuer eines armen Christenmenschen, Fernsehfilm in zwei Teilen, Regie: Fritz Umgelter, eine Produktion des Bayerischen Rundfunks für die ARD. Dauer: stattliche 155 Minuten.

II.

Um das Pontifikat des Papstes Cölestin V. aus dem Jahr 1294 geht es hier. Peter Angelerio von Morrone (wie sein ursprünglicher Name lautet) hatte davor als Eremit in den Abruzzen gelebt. Auf dem Stuhl Petri wird sein "weltfremdes Christentum" damit konfrontiert, wie eng seine Kirche sich in das Geflecht der Politik einverwoben hat, deren Praktiken für sie selbst zudem gang und gäbe geworden sind.

Schon nach wenigen Monaten dankt der "nur fromme" Mann ab. Sein einstiger kurialer Widerpart, als Bonifaz VIII. nun Nachfolger im Amt, lässt Cölestin gefangennehmen. "Und später", heißt es am Ende, "später werden sie ihn heiligsprechen. Man darf nicht versuchen, darüber nachzudenken." Genau dazu aber stiftet die Darstellung an, und zwar mit Blick auf die Gegenwart.

III.

Die literarische Vorlage fast gleichen Titels für die Sendung – nur der -mensch hinter dem Christen- fehlt dort – habe ich mir sofort zu meinem (günstigerweise zehn Tage danach fälligen) Geburtstag gewünscht, hinterher alles verschlungen, was mir von ihrem Verfasser unter die Finger kam. Secondino Tranquilli hieß er eigentlich, seit seinen Untergrund-Aktivitäten gegen das Regime Mussolinis nannte er sich Ignazio Silone. In Zustimmung und Widerspruch ist er (m)ein geistiger Gefährte geblieben.

IV.

Kirchlich sozialisiert, war Silone Mitbegründer der kommunistischen Partei, die ihn bald schon ausschloss. Temporär gehörte er diversen sozialistischen Gruppierungen an. Vor dem Faschismus, zu dem von seiner Seite gleichwohl Kontakte bestanden, ins Schweizer Exil ausgewichen, begann er dort zu schreiben. Neorealistische Romane wie Fontamara oder Wein und Brot machten ihn international bekannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg er zum geachteten (mehr-als-nur-)kulturellen Repräsentanten seiner Heimat auf. Das Stück über Cölestin V. kam 1968 heraus.

Weiterhin im Umlauf befindet sich ein Zitat Silones, das sein Freund, der Journalist François Bondy, überlieferte: "Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: 'Ich bin der Faschismus.' Nein, er wird sagen: 'Ich bin der Antifaschismus.'" Eine Bemerkung, über die sich trefflich ins Grübeln geraten lässt.

V.

Noch ein weiteres Wort mit Widerhaken stammt von diesem Autor. Nicht nur "Sozialist ohne Partei" sei er inzwischen, gab Silone 1961 in einem Interview mit dem französischen Nachrichtenmagazin L'Express zu Protokoll, sondern auch "Christ ohne Kirche". Über Gründe hierfür gibt nicht zuletzt sein Cölestin-Text Bescheid.

VI.

Anders als im Falle der seit Karl Rahner so genannten "anonymen Christen" signalisiert Silones Begriff ausdrücklich eine Selbstidentifikation als "glaubenswilliger Mensch". Wenn "so viele" darunter sich aber sehr bewusst jenseits der Gemeinschaft verorteten, ja (wie sein gescheiterter Papst fortfährt) vor ihr nachgerade "zurückschreckten", lieber heimatlos bleiben möchten, ausschließlich auf sich selbst gestellt, hat dies mit deren real bestehender Organisationsform zu tun, die auf unterschiedliche Weise Richtschnur wie Einheit vorstellen soll. (Ob etwas an ihr ist, das sonst nirgendwo zu haben wäre, wird öffentlich allerdings so gut wie nicht mehr kommuniziert. Dies nur nebenbei.)

VII.

"Die Wurzel allen Übels für die Kirche", lässt Silone Cölestin sagen, "liegt in der Versuchung, die von der Macht ausgeht". Derlei Herrschafts-"Konformismus" ist in doppelter Hinsicht korrumpierend, nicht nur für die Binnensphäre des "Systems" (oder "Apparats"), was interne Strukturen oder Dominanztechniken betrifft. Gleichermaßen erstreckt er sich auf das Verhältnis zu politischen und gesellschaftlichen Hegemonialitäten.

Solcherart Einvernehmen durchzieht ihre Geschichte, während derer Kirche viel zu oft mit unterschiedlichsten Formen staatlicher Macht sich teils arrangierte, teils gemein machte: von (universal)monarchischen über nationale und autoritäre bis hin zu unterschiedlichen Spielarten der Demokratie. Überzeugt davon, Gutes zu tun, hat sie die ihr aufgetragene Botschaft entsprechend selektiert, angepasst, zurückgestellt, verschwiegen. Eine spezielle Pointe bleibt, dass die jeweiligen 'Standorte' sich wechselseitig schon einmal das 'richtige' Christentum absprechen.

VIII.

Hierzulande geht Kirche im Schließen sozialer 'Versorgungslücken' dem Staat zur Hand, während er nicht nur die von ihr erhobenen Beiträge als Steuern eintreibt, sondern für verflossene Enteignungen von Gütern nach wie vor Zahlungen leistet. Der Macht wohlgesonnen, ist sie darauf aus, als 'verlässliche Partnerin' belobigt zu werden. Überhaupt Anerkennung durch politisch Tonangebende zu erlangen. In gerupfter Kondition unvermindert einflussreich zu sein. Von 'gesellschaftlicher Relevanz'.

IX.

Seitenstränge knäueln sich dem von Silone aufgeworfenen Thema ein. Wenn er in einem Gespräch mit Bondy die "Tendenz" der Institution beklagt, "eine Alleinherrschaft über den Geist ihrer Anhänger auszuüben", scheint dies gar weniger auf religiöse, als ins Profane zielende Dogmatik gemünzt, die sich heute rasant wieder ausbreitet. Pflegen der 'kollektive Katholizismus' bzw. jene, die sich hier für deutungsmächtig halten – Geistliche sämtlicher Klassen, ein 'Zentralkomitee', allerlei Zusammenschlüsse, Theologen, kirchenfinanzierte Medien auch – den tumben Brüder- und Schwesterlein doch anstandslos Nachhilfe zu erteilen, wie sie als Christ*innen in nicht-religiösen Fragen denken, sprechen und handeln sollten. Schönstes Echo politischer Eliten häufig.

X.

Während in dieser Kirche jede/r (fast alles) glauben (und so leben) kann, wie es beliebt, ohne mit ernsthaften Einsprüchen rechnen zu müssen, gibt es politisch noch veritable Ketzer. Hinzu kommt, dass die Errichtung schmaler Leitplanken durchaus mit bloßen buzzwords erfolgen kann – als ob sich aus ihnen zwangsläufig exklusiv gültige Lösungen bestimmter Sachfragen filtern ließen. Ohne jeden Sinn dafür, dass sich im konkreten Detail zwischen 'Werten' spannungsreiche Konkurrenzen und Konflikte aufzutun vermögen, Dilemmata, vom Bedenken gewisser Hintergründe, der Abwägung von Folgen politischer Mittel und Wege ganz zu schweigen (was der heilige Antōn in jenem sehr meditationswürdigen Gedicht von Christian Morgenstern über den von ihm bekehrten Hecht verabsäumt, zum Schaden des ganzen Biotops).

Als ob kontroverse Debatten nicht möglich, ja erforderlich seien, ohne dass es zur Feind-Erklärung kommen muss, den Vorbehalt möglicher "Verleumdung" (1 Petr 2, 1) inklusive. Begründbar (und stets fehlbar!) unterschiedliche Entscheidungen. "Für einen Christen", sagt Silones Cölestin, "ist der höchste Wert sein Gewissen, er darf es nie außer acht lassen." Energisch widerspricht dies jeder angemaßten "Alleinherrschaft" über das praktische Urteilsvermögen Gläubiger, die beim Engagement in öffentlichen Angelegenheiten als Einzelne ihrer Verantwortung gerecht zu werden versuchen.

XI.

Trügt der Eindruck, oder haben sich der Kirche in Deutschland die Prioritäten nicht längst verschoben: von spiritueller Substanz zu politischen Einlassungen und der Demonstration gesellschaftlicher Nützlichkeit? Kierkegaard – an dessen erbitterten Kampf gegen das dänische Staatschristentum seiner Zeit ich bei meiner wieder aufgenommen Lektüre Silones häufiger dachte – beschrieb dies hellsichtig als Flucht vor dem Religiösen (dessen Vermittlung unangenehm geworden ist) ins vermeintlich Beifallsträchtiger-Politische.

An Attraktivität gewinnt Kirchenzugehörigkeit dadurch kaum. Eher im Gegenteil. Zeitgenossen, die Gott suchen, sein mysterium, und stattdessen anderweitig beschallt werden: dass gerade sie es vorziehen, außerhalb zu bleiben, sollte niemanden überraschen.

XII.

Ein Christentum, welches sich schwerpunktmäßig "in der Welt einrichtet, als wäre sie von ewiger Dauer, gibt sich selbst auf" (Cölestin V. in Silones Drama). Der Vorhang fällt. Kurze Stille. Dann Gelächter. Auch Buhrufe.

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