I.
Die Überschrift ist natürlich pures Glatteis, auf das niemand sich führen lassen sollte. Leuchtet doch ein, dass geschlechtliche Zuschreibungen die Wirklichkeit GOTT zwangsläufig verfehlen. Klappe zu, Kolumne fertig? Nein! Denn bei Jacob Böhme, der am 17. November 1624, vor vierhundert Jahren, in seinem Görlitzer Haus an der Neißebrücke starb, lohnt es allemal, mindestens die üblichen fünf Minuten zu verweilen.
II.
Mit Meister Eckhart wetteifert er um den Rang des wirkmächtigsten christlichen Mystikers aus Deutschland (die dem Begriff inhärenten Fallen einmal beiseite gelassen). Schwer zu entscheiden, wer die Nase vorn hat. Mancher Gemeinsamkeiten und wohl auch Einflüsse des Älteren auf den Jüngeren ungeachtet, kontrastieren sie vielfach zueinander. Subjektbezogen spirituell der Erfurter Magister, mit nachgerade phantastischen Entwürfen teils der Autodidakt aus Schlesien. Ein monastischer Akademiker des Hochmittelalters hier, dort ein hard workin' man der beginnenden Barockzeit, Schuster von Beruf, als ihn, den Familienvater, ein Initiationserlebnis trifft (welches, am Rande bemerkt, Anno Domini 1973 der grandiose US-Mehr-als-Science-Fiction-Autor Philip K. Dick genauso erlebt haben wollte; nur dass es, fortgeschrittener Verhältnisse geschuldet, statt Sonnenglanz auf Zinngeschirr jetzt ein pinker Laserstrahl verursachte). Von rechtgläubigen Autoritäten ihrer Kirchen aus unterschiedlichen Gründen drangsaliert und der Ketzerei verdächtigt freilich beide. Und beide eben mit enormer Attraktivität bis in die Gegenwart hinein.
III.
Anders als Eckhart ist Böhme, in erster Linie vielleicht wohl, Theosoph und Mystagoge. Aus einer un-entmischten Fülle, sprachschöpferisch "Ungrund" genannt, erläutert er Geheimnisse von Gottes Wesen und "Werden". Eine weit ausgefächerte Architektur tut sich hier auf. Verschlungene Gänge führen hindurch. Dramatische Abläufe darin sind zu besichtigen. Mit der Theo- und Kosmogonie ist das Problem der Genese des Bösen verbunden, eine gleichsam als Schrift entzifferbare (dem Aufmerksamen gar tönende) Natur außerdem, die zeichenhaft über sich hinausweist. Werk um Werk entsteht vor diesem Hintergrund: Aurora, oder Morgenröthe im Aufgang das erste, Mysterium magnum das letztvollendete betitelt, dazwischen solche wie beispielsweise Der Weg zu Christo oder Von der Gnaden-Wahl.
IV.
Wie verhält es sich nun aber mit meinem Aufmacher, der weiblichen Seite Gottes? Entpuppt der ferne Autor sich am Ende als feministischer Theologe avant la lettre? Leitet er gar Wasser auf die Mühlen einer Graphie Gottes mit Gendersternchen, dessen sprachlicher Neutralisierung? (Bei dieser Gelegenheit kurz nur ein grundsätzlicher Seitenblick: Das entsprechende Substantiv kann im Deutschen auch wie ein Eigenname gebraucht werden, ohne Genus stiftende Artikel also, bei Aussagen der Art von "Ich glaube an Gott", oder "Gott ist barmherzig" etc.)
Jedoch kennt das westliche Christentum kaum einen religiösen Klassiker, dessen Vorstellungen vom "Wesen aller Wesen" so sehr "feminin" unterfüttert sind, wie Böhme. Mit der Selbstausfaltung Gottes im Zeitlos-"Vorweltlichen" hat dies zu tun. Seiner inneren Bewegung, einer "Schiedlichkeit" in verschiedene Hypostasen, die alle uneingeschränkt er selbst sind. Deren dritte, spiritus sanctus, bildet Böhme als doppelgeschlechtlich ab, männlich und weiblich. Nach der hebräisch so klassifizierten Ruah Elohim Letzteres womöglich, dem Atem Gottes (mit jeder Dynamik, vom zartesten Hauch bis zum Sturmesbrausen, in sich). Nicht anders des Höchsten personifizierte Weisheit: Sophia.
V.
Die "Zahl" der göttlichen "Figurationen" betreffend steht dahin, ob statt "Drei" damit nicht "Vier" gesetzt sei, eine Quaternität (was dem Mann aus Görlitz von Anfang an vorgeworfen wurde). Im christlichen Osten von jeher verehrt – die byzantinische Hauptkirche, religiöser Hauptort der Orthodoxie, trug ihren Namen, oder in Russland entstand regelrecht eine Sophiologie –, ist Hagia Sophia bei Böhme eine bereits dem "Ungrund" immanente "jungfräuliche Matrix, darinnen sich der ewige Geist eröffnet": als "Spiegel" oder "Imagination", in den und durch die er sich fasst, integraler Bestandteil des Höchsten, eine "göttliche Buhlschaft" (liebend ihm verbundenen also), "ohne Wesen, in der alle Dinge sind von Ewigkeit ersehen worden".
Worin die verwendeten Sprachzeichen einander ergänzen, deutet auf Weiblichkeit als Archetyp von Empfangendem und Gebärendem. Wechselnde Embleme und Analogien stehen für die Vorstellung einer Mutterseite göttlichen Seins, besser: ihrer mütterlich konnotierten Manifestationen. Mit Anleihen aus der Kabbala, der Gnosis, der Alchemie und anderen hermetischen Traditionen versucht der Autor sie einzukreisen. Sich selbst wollte er stets als authentischen Christen beglaubigt wissen.
VI.
Eine Diktion ohne zureichende Trennschärfe hat Hegel ihm attestiert, und gleichzeitig doch den Hut vor "dem ersten deutschen" – d. h. in dieser Sprache schreibenden – "Philosophen" gezogen, ja Gedanken aus ihm fortgeführt. Den etwa, dass gut dialektisch "in Jah und Nein alle Dinge bestehen, es sey Göttlich, Teuflisch, Irdisch oder was genannt mag werden".
Worauf er zielt, bleibt ein unermessliches Rätsel. Um anfänglich wenigstens den Höchsten zu erfahren, müsste alle Zerstreutheit in Raum und Zeit gewichen sein, bis hin zur völligen Ent-Leerung des Bewusstseins: "Je mehr der Mensch von sich aus den Bildern ausgehet, je mehr gehet er in GOtt ein". All unsere Ideen und Worte über ihn sind Schall und Rauch. Kognitiv objektlos aber können wir weder denken, noch vorstellen, noch sprechen. Wie allen seinesgleichen war dem Mystiker dieses Paradox gegenwärtig. Die Wirklichkeit GOTT überfordert unsere Sprache als entwerfendes- und -abbildendes Instrument. "ER" ist – der "ER" ist. Das Reden von IHM (bzw. ihr) kommt über multipel Vorbehaltliches nicht hinaus. Dies gerade wäre aus Böhmes fließender Bildlichkeit zu lernen, welche sich mit funktionalen Verähnlichungen behilft. Dazu zählt das Geschlecht.
VII.
Um noch einmal auf Sophia zu kommen, die himmlische Jungfrau und Mutter: Auch sie selbst erschöpft sich keineswegs in einer einzigen (wenn man so will:) Rolle oder Gestalt. Mehrere Binnenverzweigungen eignen ihr, durch welche Gott sich realisiert und vermittelt. Als Brücke zur Schöpfung beispielsweise, Offenbarerin des "Worts in der Natur", Teilhabe bei der Menschwerdung wie dem Erlösungsgeschehen. In den "Sacramenta" ferner. "Christi Fleisch und Blut" zumal, durch das wir mit Gott unmittelbar in Verbindung treten, ist für Böhme dem "Wesen der Sophiä" gleich. Noch die Geburt Gottes in der Seele oder deren Vermählung mit ihm werde in Gestalt der "Edlen Sophiä" vollzogen, welche dem Menschen von jeher anverlobt ist. Persönlich nicht zuletzt weiß Böhme sich in allen Angriffen von ihr beschützt: "Sie will mir zu Hilfe kommen in der Jungfrauen Sohne. Er wird mich wol wieder zu ihr ins Paradeis bringen".
VIII.
Sätze wie diese zeigen an, dass in diese Gemengelage von Relevanzen nicht zuletzt Marianisches hineinspielt. So wundert es vielleicht kaum, dass selbst Gelehrte ohne Bindung an den Katholizismus wie C. G. Jung oder Leopold Ziegler, die mit Böhmes Werk gut vertraut waren, das 1950 veröffentlichte Dogma von der leiblichen Aufnahme der Gottesmutter in den Himmel bejahten: als wichtiges, "ein den Begriff allerdings hoch übersteigendes Symbol" für die "Umwandlung, Höherwandlung" der Welt.
IX.
Die fünf Minuten sind um. Ich breche hier ab. Nicht ohne neuerlich den Verweis anzubringen indes, wie sehr mit Recht dieser tief-lotende, großartig sperrige Jacob Böhme es wert ist, dass wir ihm über vier Jahrhunderte hinweg auf der Spur bleiben.