I.
Wir wissen oft nicht, was wir sagen sollen. Unsere Stimme bricht ab, bevor sie zu sprechen beginnt. Wir ringen um Worte, verstummen aber gleich wieder, weil wir meinen, die richtigen Worte nicht zu haben, gerade dann, wenn wir versuchen, unsere Lebenslagen ungeschönt auf einen anderen hin auszurichten, den ganz Anderen vielleicht, von dem wir annehmen dürfen, dass er uns sieht, uns ansieht. Wir sehen das nur oft nicht, sehen nicht, dass wir gesehen werden, angesehen sind. Vermissen nicht einmal das Antlitz, das uns beruhigen und besänftigen könnte. Der große, begütigende Zuschauer, den die biblische Tradition Gott nennt, steht außerhalb unserer Optik. Wir sind geblendet von dem, was um uns ist. Wir bleiben bei uns und schaffen es nicht, über unsere selbstverkrümmte Existenz hinauszugehen, bleiben gebeugt über die kleinen Kommunikationsmaschinen, die uns das Gespräch mit dem Gegenüber, das Antlitz und Stimme hat, verpassen lassen, und versäumen es, uns auszurichten auf den anderen, den der Lyriker Uwe Kolbe in seiner Sammlung Psalmen "das größere Gegenüber" nennt.
II.
Der Psalter ist das Buch der Lieder, das uns helfen kann, die verlorene Sprache wiederzufinden. Es bietet einen Exodus aus der Sprachkrise, Wege aus der Sackgasse des religiösen Analphabetismus, der längst auch innerhalb der Kirche Einzug gehalten hat und durch das routinierte Reproduzieren abgedroschener Vokabulare mehr oder minder virtuos verdeckt wird. In den Psalmen aber wird nichts ausgespart, alles, von der intimsten Innerlichkeit bis zur öffentlichen Emphase, wird vor den HERRN getragen. Die Psalmen sind nach einem Wort von Emmanuel Lévinas "das Gebetbuch Israels", das nach dem verborgenen Antlitz des Herrn sucht.
Auch im 20. Jahrhundert haben Dichter auf die Psalmen zurückgegriffen, um ihre Erfahrungen in Sprache zu bringen und sie mit der Wirklichkeit zu konfrontieren, für die religiöse Überlieferung den Namen "Gott" bereithält.
III.
In diesem Gebetbuch reicht die Skala der Ausdrucksmöglichkeiten von Anklage, Protest und Schrei über die Bitte um Vergebung und das dankbare Staunen bis hin zum Lobpreis und Jubel. Ein Anstoß gegen die Doxologiemüdigkeit und Theodizeeversessenheit heutiger Theologie könnte es sein, dass der Psalter nach dem Miserere (Ps 51), nach dem De profundis (Ps 130) und nach den vielen Klage-, Dank- und Bittgebeten mit den Hallel-Psalmen in ein grandioses Finale der Rühmung einschwingt. Kosmisches Jubilieren. "Alles, was atme, lobe den Herrn" (Ps 150).
IV.
In dieses Gespräch Israels mit seinem Gott haben sich im Laufe der Jahrhunderte viele eingeschrieben. Stimmen sind dazugekommen, die sich von der Poesie der Lieder Israels haben inspirieren lassen. Luther, Opitz, Fleming und Gryphius gehören dazu. Aber auch im 20. Jahrhundert haben Dichter auf die Psalmen zurückgegriffen, um ihre Erfahrungen in Sprache zu bringen und sie mit der Wirklichkeit zu konfrontieren, für die religiöse Überlieferung den Namen "Gott" bereithält. Allerdings gehört es zur Signatur dieser Dichtung, dass nichts, was Gott betrifft – weder seine Existenz noch sein Wirken, geschweige denn die Nennung seines Namens – in ihr noch selbstverständlich ist. "Gelobt seist du, Niemand" – heißt es im Psalm von Paul Celan, als wolle er in der Geste der Anrufung die Existenz des Angerufenen gleich wieder zurücknehmen. Bei Dichterinnen wie Nelly Sachs, Rose Ausländer, Christine Lavant, Ingeborg Bachmann und Wisława Szymborska, die auf ihre Weise unter dem Neigungswinkel der Kreatürlichkeit moderne Psalmen geschrieben haben, ließen sich ähnliche Beobachtungen machen.
Unter den heutigen Schriftstellern ist neben Arnold Stadler (geb. 1954), der unter dem Titel "Die Menschen lügen. Alle" eine Sammlung von Psalmenübertragungen vorgelegt hat, vor allem Uwe Kolbe (geb. 1957) zu nennen. Schon in seinem Gedichtband Gegenreden findet sich eine Vorankündigung, die den Titel Psalmen trägt: "In dem Gehäuse der Lieder, / im singenden Baum von Morgen bis Abend, / der Dank, dass in dem Dafür und Dawider / der Welt Kreaturen das Stimmrecht haben."
V.
Die Stimme Uwe Kolbes bewegt sich in diesem "Gehäuse der Lieder", sie ist nicht um Sprachartistik bemüht, findet vielmehr zu einer eindrücklichen Einfachheit, die man in der Lyrik der Gegenwart lange suchen muss. Im Hintergrund steht ein Ausdrucksverlangen, das sich nicht durch die Imperative des Literaturbetriebs bestimmen lässt, der auf Sprache, die ins Religiöse ausgreift, immer noch mit pawlowschen Antireflexen reagiert. Dabei ist Uwe Kolbe agnostisch sozialisiert, er stammt aus "Gottes geliebter Ostzone", wie der Schweizer Theologe Karl Barth die DDR einmal genannt hat. Für Uwe Kolbe, der in Ost-Berlin aufwuchs, ist der graue Alltag im real existierenden Sozialismus nicht bloß Begriff, sondern Anschauung gewesen.
Kolbe hat früh zu schreiben begonnen und fand in dem seiner Zeit hoch angesehenen DDR-Schriftsteller Franz Fühmann einen Förderer und wohlwollenden Kritiker. Gleichzeitig kam er früh mit den Bulldoggen der kommunistischen Orthodoxie in Konflikt, die anschlugen und zu kläffen begannen, als die ersten Gedichtzeilen nicht systemkonform waren. Die wenigen Worte eines Gedichts können unter den Bedingungen der Sprachzensur gefährlich und subversiv sein. Kolbe hat das erfahren, er erhielt Publikationsverbot und emigrierte in den Westen.
Wenn man diese Stationen überblickt, scheint die einzige Stabilität die instabilitas loci zu sein, was anzeigen mag, dass Uwe Kolbe ein Homo Viator ist – ein Wanderer, ein Suchender, der die innere Kompassnadel immer neu ausrichtet.
Ausgerechnet im Herbst 1989 war der Lyriker aus Ostdeutschland "Visiting Writer" an der University of Texas. Was zunächst als Privileg erschien: die Einladung in die USA, wurde zum großen Versäumnis. In seinem Buch Renegatentermine beschreibt Kolbe, wie er sich um einen Traun betrogen fühlte, den Fall der Mauer nicht live, sondern aus der Ferne über den Bildschirm miterleben zu müssen. 1992 folgte ein Stipendium in der Villa Massimo in Rom, danach lebte er für einige Jahre am Prenzlauer Berg, bis er 1997 nach Tübingen, in die Stadt Hölderlins, übersiedelte, in der er zum Leiter des "Studio Literatur und Theater" an der dortigen Eberhard-Karls-Universität berufen wurde.
2002 ging es dann vom Neckar zurück an die Spree nach Berlin-Charlottenburg, Jahre an der Alster in Hamburg schlossen sich an und seit 2017, lebt und arbeitet Uwe Kolbe in Dresden. Wenn man diese Stationen überblickt, scheint die einzige Stabilität die instabilitas loci zu sein, was anzeigen mag, dass Uwe Kolbe ein Homo Viator ist – ein Wanderer, ein Suchender, der die innere Kompassnadel immer neu ausrichtet. Diese Suchbewegungen halten, wie seinen Psalmen zu entnehmen ist, zu auf das "größere Gegenüber".
VI.
Beginnen wir mit dem Ende. Der letzte dieser Psalmen ist adressiert AN DICH und lautet:
Du hast mich gemacht,
du kannst mich zerstören.
Du hast mich aufgemacht,
du kannst mich wieder schließen.
Es gibt nichts zu murren,
nicht, dass du das meinst.
Lass nur den Weg mich, der noch bleibt,
an deiner Hand zu Ende gehen.
Acht Zeilen, mehr braucht Uwe Kolbe nicht. Das poetische Stilmittel der Psalmen, der Parallelismus membrorum, ist das Bauprinzip: Du hast mich, du kannst mich, du hast mich, du kannst mich. Dann der Einschub: "Es gibt nichts zu murren", bevor das Gedicht einmündet in die abschiedlich gefärbte Bitte, die man als poetische Anleitung zur Kunst des Sterbens, zur ars moriendi, mitten im Leben lesen kann: "Lass nur den Weg mich, der noch bleibt, an deiner Hand zu Ende gehen." Eine Erfahrung, die in die Kindheit zurückreicht: die Hand in die eines anderen legen, der den Weg weiß, begleitet und beschützt sein, ein Bild der Geborgenheit.
VII.
Lange hat in der Lyrik Kolbes diese Ausrichtung auf das größere Gegenüber, die in diesen Gedichten durchbricht, gefehlt. Er selbst schreibt im Vorwort: "Dies sind Psalmen eines Heiden, der Gott verpasste, weil keiner bei dem Kinde ging, der sagte, hörst du die Stimme?"
Der Dichter schaut zurück auf die Gedichte, die er geschrieben hat, er räumt ein, dass etwas gefehlt hat. Was aber hat gefehlt? "Irgendwann schrieb ich Gedichte. Und all das Schweigen in dem, was ich schrieb, das darin Verschwiegene, das allerdings immer damit Gesagte – glaube es oder glaube es nicht – galt von Anfang an dem größeren Gegenüber. Davon schwieg ich aber, das ließ ich zwischen den Zeilen der Gedichte stehen als den poetischen Raum."
Das lange verschwiegene und im Verschweigen mitgesagte größere Gegenüber wandert nun vom Raum zwischen den Zeilen in die Zeilen selbst ein. Das ist das Neue, das ist das Erregende dieser Sammlung. Es kann, ja darf nicht länger verschwiegen werden, es verlangt danach, ausgesprochen, ja angesprochen zu werden. In einem anderen Gedicht, dem Psalm nach der tonlosen Zeit, ist dieser überraschende Umschlag von der Rede über in die Rede zu Gott zu beobachten. Darin heißt es:
Das Lied ohne Gott ist tonlos,
es langweilt sich bei sich selbst,
und seine Sänger schlafen ein.
Dem Lied ohne Gott fehlt Gott,
das geistlose hat keinen Geist.
Mein eigenes Schwadronieren,
gottloses Wort, das ich sagte,
betrog all jene, die hörten.
Ich fand mich wohl toll
In meiner schwarzen Weste,
den Fleck meiner Sehnsucht,
von der mein Gesang ging,
ein sprachloses Sprechen,
ein Fragen, von Anfang hohl.
Das Lied ohne dich ist tonlos,
Herr, dies ist mein Psalm.
VIII.
Der Dichter, der "das größere Gegenüber" entdeckt hat, wendet sich gegen den Dichter, der "das größere Gegenüber" verdeckt und verschwiegen hat. Kolbe muckt gegen Kolbe auf: "mein eigenes Schwadronieren, gottloses Wort, das ich sagte" – als seien seine Gedichte vor den Psalmen tatsächlich alle tonlos und hohl gewesen. Der Leser will hier spontan gegen Kolbe aufmucken, der sich selbst und sein Werk, in dem sich auch vorher schon großartige Gedichte finden, so ungebührlich herabsetzt. Aber jetzt: "Das Lied ohne dich ist tonlos, / Herr, dies ist mein Psalm." Es wäre reizvoll, noch mehr aus diesen Psalmen zu zitieren und zu kommentieren.
Aber nur auf eines sei zum Schluss dieser Miniatur noch hingewiesen: Wer älter wird, dem wird zunehmend bewusst, dass das Zeitfenster, das noch bleibt, kleiner wird. Es stehen nicht mehr alle Möglichkeiten offen. Das, was noch getan werden kann, wird sorgfältiger abgewogen, weil klar ist, dass nicht mehr alles getan werden kann. Es geht um Lebenskunst, die mit dem Älterwerden zurande kommen muss. Das Abendgebet der Kirche leitet zu einer solchen Kunst der bewussten Lebensgestaltung an, wenn es neben der kritischen Selbstrevision am Ende des Tages auch eine Haltung des Vertrauens einübt: "Herr, auf dich vertraue ich, in deine Hände lege ich mein Leben."
Ganz auf dieser Linie ist Uwe Kolbe ein kleines, aber großartiges Gedicht gelungen, es heißt NACHT:
Auch wenn ich schon das große Schloss
Der Nacht betrete,
schlägt noch mein Herz,
dass ich noch bete,
es möge eines Tages friedlich stille stehen.
Noch kann ich’s nicht,
doch lass mich, wenn es Zeit ist,
friedlich gehen.