Das Zerschlagene zusammenfügenMessianische Spuren bei Paul Celan und Walter Benjamin

Im Eingedenken der Toten, in der Trauer um die Verlorenen wurzelt die Hoffnung auf eine Macht, die das Unwiderrufliche widerrufen könnte.

Jan-Heiner Tück
© privat

I.

"Entengeln" – dieses ungewöhnliche Wort kommt in einem unveröffentlichten späten Gedicht von Paul Celan (1920-1970) vor, meine ich mich zu erinnern. Der Engel – Chiffre der Transzendenz, flüchtiger Bote einer anderen Welt, Schutz und Schirm in allen Lebenslagen – wird hier von Grund auf in Frage gestellt. Die Vorsilbe "ent-" nimmt zurück und bestreitet. 'Ent-haupten' etwa heißt den Kopf abschlagen, de-kapitalisieren, 'ent-engeln' wäre entsprechend, die Chiffre der Transzendenz aus dem Horizont des Möglichen wegwischen, dem flüchtigen Boten der anderen Welt die Existenzberechtigung entziehen, als gäbe es ihn nicht, ja könne ihn gar nicht geben. Wird das Geschäft der Entmythologisierung erfolgreich erledigt, sind wir in der Moderne angekommen, kommt die Welt ohne Engel aus.

II.

Mein Gedächtnis hat sich getäuscht. Paul Celan kann als Erfüllungsgehilfe der Entmythologisierung nicht vorgezeigt werden. Als ich den Band mit seinen Gedichten aus dem Regal hole und nachschlage, sehe ich, dass in besagtem Gedicht aus dem Jahr 1968 nicht von 'entengeln', sondern von 'entknechten' die Rede ist. Es lautet:

Geengelt

steht die Geschichte

zum entknechteten Knecht…

Es ist wohl die Spur einer Walter-Benjamin-Lektüre, die in diesen Zeilen ihren versteckten Niederschlag gefunden hat. In seinen Thesen zum Begriff der Geschichte, die sich nach seinem Tod in einem Koffer als testamentarische Hinterlassenschaft seines Denkens fanden, steht ein Bild im Zentrum: "Es gibt ein Bild von Klee, das 'Angelus Novus' heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind aufgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen." Er ist mit der Katastrophe der Geschichte konfrontiert. Sein Gesicht ist der Vergangenheit zugewandt und, statt einer Kette von Begebenheiten, sieht er, wie die Trümmer der Vergangenheit sich immer höher auftürmen. "Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen."

Würde der Knecht, der für eine bessere Welt arbeitet, von Ausbeutung und Knechtschaft ein für alle Mal befreit, könnte das messianische Reich anbrechen. Eine Geschichte im Zeichen des Engels würde die Unterdrückten nicht mehr verraten oder zynisch als Dünger für den Fortschritt der Geschichte missbrauchen, sondern sie zu ihrem Recht kommen lassen. Im Wort 'entknechten' steckt nicht nur das Emanzipationspathos von 1968, das Celan bei den Studentendemonstrationen in Paris miterlebt hat, auch schwingt die biblische Erinnerung an die Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten mit, die im Zentrum der jüdischen Erinnerungskultur steht. Im Buch Exodus geht der Engel des Herrn von Tür zu Tür, erschlägt die Erstgeburt der Ägypter und verschont zugleich die Häuser der Hebräer, deren Türsturz mit dem Blut des Lammes bestrichen ist.

III.

Pascha – Vorübergang des Herrn, der einen Unterschied setzt. Ob Benjamins Engel, der die Toten weckt und das Zerschlagene zusammenfügt, auf die rettende Intervention einer höheren Macht verweist, ist fraglich. In jedem Fall hat der in seinem Geschichtsdenken punktuell aufblitzende Messianismus eine welt- und geschichtszugewandte Seite. Beide, Benjamin und Celan, sind – wenn auch gebrochen – späte Erben der jüdischen Apokalyptik, die in vielfältigen Gestalten das wache Organ für die Unterdrückten und Entrechteten mit dem Aufruf zum Widerstand gegen das Bestehende verbunden hat. Beide verbitten sich eine Siegergeschichtsschreibung, die die großen Namen glorifiziert. Beide verbieten sich eine Ausflucht in eschatologische Jenseitswelten, die keine weltverändernde Kraft für das Diesseits mobilisieren würde. Beide sind spröde gegen einen philosophischen Chiliasmus, der das Kommen des Reiches im Sinne eines Stufenplans herbeiführen oder durch revolutionärn Umsturz beschleunigen möchte. Im Eingedenken der Toten, in der Trauer um die Verlorenen wurzelt die Hoffnung auf eine Macht, die das Unwiderrufliche widerrufen könnte.

IV.

"Niemand / zeugt / für den Zeugen", heißt es in Celans Gedicht Aschenglorie. Der Titel setzt zwei Wörter in eins, die gegensätzlicher kaum sein könnten: Asche und Glorie. Glorie, das meint das ehrende Andenken der Toten und Verstummten. Glorificare – verherrlichen und großsprechen die, die gedemütigt, gequält und vernichtet wurden. Glorie spielt aber auch auf das an, was die scholastische Theologie das corpus glorificatum nennt – den verklärten Leib. Asche – das ruft die Verbrennung der jüdischen Opfer in den Krematorien in Erinnerung: "Alle die Namen, alle die mit- / verbrannten Namen. Soviel / zu segnende Asche. Soviel", heißt es in Chymisch, einem anderen Gedicht Paul Celans. Für orthodoxe Juden bestand in der Verbrennung der Leichen eine weitere Perfidie der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Sie verstehen Auferstehung als physische Wiederherstellung des verwesten Leichnams, wie es beim Propheten Ezechiel in einer eindrücklichen Vision geschildert wird (Ez 37). Das Wort "Aschenglorie" gibt dem Grauen Ausdruck und lässt zugleich die vorsichtige Hoffnung mitschwingen, dass es eine Instanz geben könnte, welche den verbrannten Leibern der jüdischen Opfer neues Leben geben könnte. Vielleicht …

V. 

Wie ein Kommentar zu Celans Zeile "Niemand / zeugt / für den Zeugen" liest sich eine Aufzeichnung des ungarischen Schriftstellers Imre Kertész (1929-2016), der selbst dem Grauen von Auschwitz nur knapp entronnen ist: "Das Verlangen, Zeugnis abzulegen, wächst, als sei ich der letzte, der noch lebt und reden kann" – aber da das Zeugnis auch des letzten Zeugen angefochten und totgeschwiegen werden kann, verweist Kertész auf einen anderen Zeugen, der sein Wort verbürgen könnte: "Der Mensch braucht Zeugen, damit seine Worte moralischen Sinn gewinnen. Der wichtigste, der höchste Zeuge des Menschen ist Gott." Und dann schränkt er gleich wieder ein, als gäbe es diese religiöse Hintergrundvergewisserung nicht: "Das beweist allerdings noch nicht, daß Gott ihn tatsächlich hört und erhört. Es beweist auch nicht die Existenz Gottes." (Der Beobachter, Hamburg 2016, 38f) – Diese Sehnsucht nach dem großen Zeugen steht in einer gewissen Nähe zu Celans Psalm, der zwischen Gebet und Anti-Gebet schwankt, wenn er die hymnische Anrufung an ein Du mit dem Index der Vorenthaltung verbindet und das Indefinitpronomen "niemand" großschreibt wie einen Namen: "Gelobt seist du, Niemand."

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