I.
Es ist wahr, dass Sinn sinnlich wahrgenommen werden kann. Sense und sensuality hängen zusammen. Und: Bilder können verändern. Sie prägen – wenn man bereit ist, sich prägen zu lassen. Ein Bild der Gnade kann selbst gnädig stimmen.
II.
Es gibt Menschen, die vor Michelangelos Pietà in Tränen ausbrechen. Die Mutter, die ihren toten Sohn in Armen hält – Mitleid und Erbarmen in Stein, als würde der Stein leben. Das ist vollendete Bildhauerkunst, die später vielleicht nur Auguste Rodin noch einmal erreichen wird. Der Körper eines Menschen – in vollkommenen Proportionen in weißen Marmor gemeißelt. Inkarnation als Ausdruck von Transzendenz. Das Gesicht der Gottesmutter, das von stiller Güte umstrahlt ist, als habe der Tod nicht das letzte Wort – ein leiser Wink, der auf die Auferstehung des Fleisches vorausverweist? Rodins zeitweiliger Sekretär – Rainer Maria Rilke – schrieb in seinem Gedicht Archaischer Torso Apollos die Zeile: "… denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern." Das Mitgefühl der Pietà mit ihrem gekreuzigten Sohn, der auf ihrem Schoß liegt – bewegungslos, kalt und tot –, kann keinen kalt und gleichgültig lassen. Ihr Schweigen, ihre Versunkenheit, ihr Leiden. Compassio mit der passio caritatis, die am Kreuz die Gestalt des Äußersten gefunden hat. Ihr jugendliches Gesicht mit den niedergeschlagenen Augen. Nur stille Trauer und Melancholie? Oder vielleicht doch auch die Andeutung eines Lächelns, das nur Sinn macht, wenn es ein Leben über den Tod hinaus gibt?
III.
Die eindrücklichsten Bilder der Pietà stammen von Robert Hupka (1909-2001). Er ist als Jude 1938 gerade noch rechtzeitig aus Wien geflohen. Seine Eltern sind von den Schergen der Nazis gefasst, deportiert und umgebracht worden. In New York hat Hupka sich ein neues Leben aufgebaut und als Toningenieur und Fotograf gearbeitet. Durch Aufnahmen des italienischen Dirigenten Arturo Toscanini ist er bekannt geworden. Aber noch prägender für ihn gewesen ist eine andere Geschichte, die mit dem betagten Johannes XXIII. zu tun hat. Der Roncalli-Papst hat auch hier eine Entscheidung getroffen, die heute wohl undenkbar wäre. Er hat der Bitte des New Yorker Erzbischofs, Kardinal Francis Spellmann, stattgegeben, die Pietà von Michelangelo aus dem Petersdom nach New York zur Weltausstellung 1964/65 transferieren zu dürfen. Sie wurde tatsächlich dort im Vatikanischen Pavillon ausgestellt und mehrere Monate gezeigt. Hupka, der für die Hintergrundmusik im Pavillon sorgen sollte, erhielt die Möglichkeit, die Skulptur zu fotografieren. Nächte lang hat er die Pietà aus unterschiedlichen Blickwinkeln in jeweils unterschiedlicher Beleuchtung mit unterschiedlichen Objektiven eingefangen. Von vorn, von der Seite, von hinten, von oben. Immer wieder. Immer neu. Dabei sind über 5.000 wunderbare Aufnahmen entstanden. Sie machen sichtbar, dass die Skulptur des 24-jährigen Michelangelo selbst ein Wunder ist. Hupka hat Jahre später davon gesprochen, keine Worte für das dichte Erlebnis dieser Wochen zu haben; es sei nichts weniger gewesen als eine "experience of being in the presence of the mystery of true greatness".
IV.
Kardinal Christoph Schönborn war mit Robert Hupka, der zur Katholischen Kirche übergetreten ist, befreundet. 2001 hat er den betagten und schon schwer kranken Fotografen in New York noch einmal besucht. Ein Zimmer – ein Bett – ein Stuhl – ein Schrank, in dem all seine Aufnahmen aufbewahrt waren. An der Wand hing das Bild mit dem Gesicht der Pietà – Anteilnahme, die zur Anteilnahme einlädt. Am Ende des Besuchs und in dem klaren Bewusstsein, nun ein für alle Mal Adieu sagen zu müssen, sagte der Kardinal, auf das Gesicht der Pietà an der Wand verweisend: "Wenn nun bald der Augenblick kommt, wo du uns verlässt und von hier nach dort hinübergehst, dann wirst du sehen, wie sie ihre Augen öffnet – und du wirst sehen, wie es sich anfühlt, von ihr angeschaut zu werden."
V.
Michelangelo’s statue is a ray from heaven, giving us a glimpse of the beauty awating for us when we get there – das sind die letzten Worte des Begleitkommentars, den Robert Hupka einem Buch mit ausgewählten Aufnahmen der Pietà beigegeben hat.
VI.
Sehen, dass ein anderer einen sieht. Kinder betteln um den Blick ihrer Eltern. Sie brauchen ihn, um zu leben, sich zu entfalten. Erwachsene suchen Ansehen – und kämpfen mitunter darum. Gewiss, der Blick der anderen kann ein Gerichtshof sein. Er kann niedermachen und vernichten. Aber was, wenn uns ein wohlwollender Blick erreicht, der uns bestärkt und bejaht? Und was, wenn dieser Blick umsonst gewährt wird? Die menschliche Sehnsucht nach Glück, so lehrt es Thomas von Aquin und mit ihm die ganze scholastische Theologie, kommt in der visio facialis zur Ruhe, der seligen Schau von Angesicht zu Angesicht. Am Schluss seines vielleicht schönsten Hymnus Adoro te devote hat er dafür eindrückliche Worte gefunden: "Jesus, den verborgen jetzt mein Auge sieht, / stille mein Verlangen, das mich heiß durchglüht: / lass die Schleier fallen einst in deinem Licht, / dass ich selig schaue, Herr, dein Angesicht."
VI.
Sich selbst im Angesicht eines anderen sehen, heißt anders werden. Videntem videre. Der österreichische Schriftsteller Peter Handke hat in einem Gespräch mit seinem Freund Peter Stamm einmal auf die besänftigende Wirkung hingewiesen, die ein solcher Blick, ein solches Angeschautwerden haben könnte: "Ich denke mir manchmal, diese Wendung zu Gott ist, dass man innerlich sich angeschaut sieht. Dass man sich gesehen sieht. Dass man sich von einem alles verstehenden, aber nicht allmächtigen, also von einem alles verstehenden Wesen gesehen sieht – und im Handumdrehen oder im Blickaufschlagen wird etwas anders mit dir. Das ist das, was man vielleicht – Punkt Punkt Punkt. Ich möchte da nicht weiterreden, aber es ist eine Erzählung zumindest wert, dieser Zustand: Was ist Zuschauen? Wie, was für verschiedene Stufen von Zuschauen gibt es? Ich glaube, es gibt wirklich etwas wie ein gottähnliches Zuschauen. Also dass man ganz und gar nicht gottgleich ist, aber ... eine Güte im Zuschauen da ist, ja, ein gütiges, aktives Zuschauen, das man ruhig, glaube ich, ein Ideal nennen könnte, im Leben und im Arbeiten, auch im Lassen, im Sein-Lassen der anderen."