I.
Eine Schweizer Politikerin benutzt eine Darstellung der Madonna als Ziel bei einer Schießübung, postet Bilder davon auf Instagram – und löst damit einen Skandal aus. Ich kommentiere den Fall: "Es ist gewiss falsch, reflexhaft auf antichristliche Provokationen zu reagieren und so die affektive Polarisierung in der Gesellschaft zu steigern. Genauso falsch ist es, einen Habitus des Wegsehens zu kultivieren und jede Verunglimpfung hinzunehmen."
II.
Kurze Zeit später zeigt sich: Der Schuss gegen das Marienbild ist für Sanija Ameti nach hinten losgegangen. Sie ist selbst Zielscheibe eines kollektiven Empörungssturms geworden. Und nicht nur das: sie ist ihren Job bei einer Marketingagentur los und sieht sich mit Strafanzeigen wegen Verletzung der Kultur- und Glaubensfreiheit konfrontiert. Wegen der aufgeheizten Stimmung hat sie ihre Position in der Stadtzürcher Grünliberalen Partei geräumt. Ihr Bedauern über das fahrlässige Verhalten, ihre Entschuldigung, sie habe niemanden verletzen wollen, wird in den Sozialen Medien nicht angenommen. Mit gnadenloser Härte entlädt sich die Wut, darunter unverhohlen sexistische, islam- und ausländerfeindliche Kommentare. Selbst Morddrohungen sieht sie sich ausgesetzt.
III.
Bei aller Kritik an der religionsfeindlichen Provokation darf die Provokateurin den Hasstiraden nicht schutzlos ausgeliefert werden. Der Bezichtigungsfuror hat eine gefährliche Eskalationsstufe erreicht. Mit Recht hat daher Schweizerische Katholische Frauenbund zu mehr Besonnenheit in der Debatte aufgerufen und sich an die Seite von Sanija Ameti gestellt, die sich inzwischen auch in einem Brief an den Bischof von Chur, Joseph Bonnemain, für ihr Verhalten entschuldigt hat. Der Bischof ließ wissen, er habe Ameti vergeben – und rief alle auf, es ihm gleichzutun.
IV.
Erinnern wir uns an die Geschichte aus dem Johannes-Evangelium: Als alle Finger auf die beim Ehebruch ertappte Frau zeigten, hat Jesus mit seinem Finger in den Sand geschrieben und damit die Aufmerksamkeit von der Frau weggelenkt. Durch den Satz "Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein" hat er die Dynamik "Alle gegen eine" in den Anstoß "Jeder gegen sich" verkehrt und gerade so der moralischen Selbstgerechtigkeit der Ankläger die Grundlage entzogen. Die Lektion ist: Wer seine Schwächen kennt und weiß, dass er auf die Gnade anderer angewiesen ist, wird in den gnadenlosen Bezichtigungschor nicht einstimmen können. Anders gesagt: Die Person der Provokateurin ist anderes und mehr als die Provokation, die sie begangen hat, mag diese auch verstörend, verletzend und dumm gewesen sein.
V.
Die medienversierte Politikerin und Hobby-Schützin Sanija Ameti hat ihre Tat bereut: Hätte sie vorher gewusst, welche Irritationen ihre Schüsse auf den Kopf Mariens und des Jesuskindes ausgelöst hätten, wäre ihr nicht eingefallen, das Heilige als Zielscheibe zu wählen und das provokante Posting auf Instagram abzusetzen. In der kritischen Selbstrevision aber liegt die Chance der Besserung. Es wäre falsch, ihr diese Chance nicht einzuräumen. Es ist nie zu spät.