Ein Reich, das nur von dieser Welt istSelma Lagerlöfs Ausblick auf das Wesen des modernen Geistes

Ein Kriminalfall nachgerade. Das wundertätige Bild des Christuskinds auf dem römischen Kapitol wird kopiert und dabei mutmaßlich subtil verfälscht. Unter dem Einfluss des Doubles geht es den Menschen dann aber deutlich besser. Er- und vermittelnd tut sich am Ende der Papst hervor. Von eigenen Überlegungen abgehalten werden sollte dadurch jedoch kein Leser dieses Romans.

Autorin Selma Lagerlöf (1858-1940)
Anton Blomberg, Selma Lagerlöf, 1906© gemeinfrei/Wikimedia Commons

I.

Selma Lagerlöf also. 'Ach, die olle Märchentante!' Eben die. Wer indes derart von ihr redet, hat wenig verstanden. Nils Holgersson jedenfalls, sollte der Nasenrümpf darauf bezogen sein, ist ein klasse Buch. Meist kennen wir es leider nur aus Kindertagen, verkürzt, bearbeitet oder gar nacherzählt.

Ebenso abenteuerlich wie lehrreich ist die Reise eines seiner Garstigkeit wegen zum Däumling geschrumpften, frühadoleszenten Tunichtgut mit (und auf) den Wildgänsen kreuz und quer durch Schweden. Am Ende hat der frühere Lümmel viel gelernt. Beim Abschied stattet ihn die Anführerin des Vogelzugs, Akka von Kebnekajse ihr Name, noch mit einer wichtigen Erkenntnis aus: der Mensch dürfe die Erde keineswegs für sich allein beanspruchen. So äußert sich definitiv keine dumme Gans.

II.

Nicht darüber jedoch möchte ich mich verbreiten. Selma Lagerlöf (die 1909 als erste Frau überhaupt den Literatur-Nobelpreis erhielt) hat ja mehr als bloß dieses Meisterwerk geschrieben, religiös grundiert des öfteren, wie als sorgfältige Beobachterin ihrer Gegenwart. Dabei gerieten ihr Umbrüche in den Blick, die für uns heute so selbstverständlich geworden sind, dass wir sie vielleicht gar nicht weiter in Frage stellen.

Die Wunder des Antichrist, ein früher, zu Unrecht wenig bekannter Roman zum Beispiel. Bemerkenswerterweise kam seine erste deutsche Übersetzung bei Kirchheim in Mainz heraus, wo schwerpunktmäßig sonst Katholisch-Theologisches verlegt wurde. Auf wen der Titel Bezug nimmt, geht aus der Endzeitrede Markus 13, 22 hervor. "Mancher falsche Messias und mancher falsche Prophet" wird dort angekündigt, "Zeichen und Wunder" wirkend, um die Gläubigen "irrezuführen". Vor zeitgenössischem Hintergrund spiegelt Selma Lagerlöf das Motiv und versinnlicht es in einem Symbol der Volksfrömmigkeit. Seit meiner ersten Lektüre hat es mich nicht mehr losgelassen.

III.

Ausgangspunkt der Handlung ist das römische Kapitol. Seit alters birgt die Kirche Santa Maria in Aracoeli dort ein als wundertätig verehrtes Bild des Christuskindes. Hingerissen davon lässt eine reiche Besucherin ein ihm scheinbar völlig gleiches Imitat anfertigen. Zur Unterscheidung von dem Original wird, lediglich in einem (doch gewichtigen) Wort abweichend, Jesu Satz vor Pilatus in die Krone geritzt: "Mein Reich ist nur von dieser Welt." Das Double gerät dadurch zum Konkurrenz-, ja Nachfolge-Phänomen der Vorlage.

Über das revolutionäre Paris von 1848 gelangt die modifizierte Figur der Devotion vier Jahrzehnte später nach Diamante und entfaltet dort, im Städtchen am Fuße des Ätna, vor dem Hintergrund herrschender Armut und Rückständigkeit seine Macht. Allerlei Anliegen verhilft es zur Erfüllung, privaten wie vor allem dem ehrgeizigen Projekt zum Aufschwung der wirtschaftlichen Verhältnisse und damit verbundener Hebung des Lebensstandards.

Was Selma Lagerlöf anfanghaft darstellt, ist ein epochaler Mentalitätswandel, der über seine zündende politische Bewegung längst hinausgewachsen ist.

Eine anschwellende "Lehre" mit "welterneuernder" Stoßrichtung erkennt in der umgewidmeten Aufschrift eigene Bestrebungen wieder. Es ist der Sozialismus, der sie mit erläuterndem Appendix fortschreibt: "euer Bestreben soll das Glück aller sein, denn es wartet euer kein Ersatz". Der Wille zur Erfüllung rein im Diesseits beginnt an die Stelle der traditionellen Religiosität zu treten.

Was Selma Lagerlöf anfanghaft darstellt, ist ein epochaler Mentalitätswandel, der über seine zündende politische Bewegung längst hinausgewachsen ist. Die "Welt" und ihre Gestaltung im Sinne der Optimierung des menschlichen Lebens wird zum obersten Wert. Gott braucht es nicht einmal mehr als Stimulus, da dessen Verheißungen von der selbstgewissen Zukunftsfähigkeit aus eigener Kraft locker überholt werden, planvoll herbeigeführten "Wundern", nicht nur jenseitig in Aussicht gestellt, sondern hier und jetzt konkret verwirklichbar.

IV.

Doch wer wollte an der permanenten Umgestaltung menschlicher Verhältnisse zum besseren ernsthaft herummäkeln? Ist dies nicht etwa Geist vom Geist des Christentums? Liegt derlei nicht etwa in ihm selbst begründet, als zentrale Aufgabe sogar? Manche Zeitgenossen, sehr respektable darunter, halten deshalb dafür, unvermindert seien am Grund der scheinbar glaubensfernen Moderne religiöse Energien am Werk. Sozusagen anonym hätten sich eben nur auf das Projekt better world verlagert, als dem eigentlichen Hervorgang des Höchsten. Womöglich markiert die Aufschrift auf der Figur des Bambino eine Bruchlinie des Christentums selbst. 'Gott' ereignet sich nun (allein) durch den Prozess des Fortschritts.

V.

"Ihr habt den Himmel vergessen. Ihr habt vergessen, dass ihr eine Seele habt. Ihr denkt nur noch an diese Welt", predigt bei Selma Lagerlöf Pater Gondo seiner Gemeinde unter dem Vulkan vehement ins Gewissen. "Zu Gott zurückzuführen" vermag er sie damit jedoch nicht. Sollte der fortgesetzten sozialen und technisch gestützten Machbarkeitsdynamik tatsächlich ein Trend zur Säkularisierung anhaften (wie zehn Jahre nach Selma Lagerlöfs Roman ein hellsichtiger Aufsatz Ernst Troeltschs den Siegeszug der Moderne deutet)? Nicht durch bewussten Ausschluss der Transzendenz, wohl aber ihr Betäuben in unserer Erfahrungswelt, als langsames Erlöschen?

VI.

"Niemand kann Christus gefährlich werden außer dem, der ihm in Güte ähnlich ist", notiert Selma Lagerlöf über "eine kleine sizilianische Sage", die sie für ihren "Sozialistenroman" verwendete. Schon vorher hatte sie im Dom von Orvieto Luca Signorellis Fresco von der Predigt und den Taten des Antichrist eingehend betrachtet: "Wie würde es sein, wenn der wiederkehrte?" Just dorthin schickt am Ende ein "alter, weiser" Papst den Pater Gondo, bevor er ihn zum zweiten Gespräch empfängt.

Mit Blick die künftige Entwicklung argumentiert der vicarius Christi gleichwohl weniger apokalyptisch als pragmatisch. Zugleich eigene Versäumnisse korrigierend, solle die Kirche das umarmen, was an dem säkularisierten Substrat richtig sei. Weltemphase und Metaphysik müssten sich einander doch nicht widersprechen. Mitzutun gelte es bei ersterer, sie jedoch von einer – "Verführung" genannten – Placebo-Zone freihalten, als ob hierin das Letzte bestünde. "Wir werden", gibt der Pontifex als Parole aus, "Erde und Himmel versöhnen." Unterschätzt er da nicht gewisse Tücken?

VII.

Wenn auf der Welt alles bleibend gut eingerichtet sein wird, wenn niemand mehr Not leiden muss, wenn die Krankheiten besiegt sind, die Endlichkeit gar (und sei es nur über den Umweg künstlicher Intelligenz), wenn Wohlstand, Freiheit und Frieden herrschen, wenn Werte wie Haltungen ausnahmslos der (wie es heißt) 'richtigen Seite der Geschichte' entsprechen, wenn schließlich auch der Planet dauerhaft 'gerettet', kurz: die Erde in ein annäherungsweise erreichbares Paradies verwandelt ist – erst dann könnte die religiöse Frage sich womöglich mit ihrer radikalsten Wucht melden. Denn wäre das schon alles?

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