Ö und andere Kürzest-SilbenSidney Corbetts musikalisches Kyrie des Un-Nennbaren

Ein stattlicher Teil der Neuen Musik ist programmatisch von spirituellen Bezügen nicht zu trennen. Wichtige ihrer Vertreter begeben sich mit Nachdruck auf die Suche nach dem Göttlichen. Wo aber wäre dieses wohl am ehesten erahnbar? In der Rücknahme des Aufwands vielleicht, im Verstummen, in der Stille.

Sidney Corbett bei der Arbeit
Sidney Corbett bei der Arbeit© Manfred Rinderspacher

I.

Keine Kunst bewundere ich so sehr wie die der Töne. Allein schon deshalb, weil ihre Sprache sich jenseits des Diskursiven bewegt. Das Aufgerufene wird dort nicht gleichsam gefangengenommen, auf scheinbar eindeutig Verstehbares fixiert. Wie ein cantus firmus durchzieht derlei seit jeher das Nachdenken über die Musik – samt dem, was uns in der intensiven Begegnung mit ihr zu widerfahren vermag.

Letzteres wurde von Peter Sloterdijk einmal als Schwelle zum Jenseits rationaler Bemächtigung umrissen. Eine Art "Exodus" vollziehe sich, "adventisches" Aus-sich-Herausgehen, als ob in diesem Medium durch Klänge ein "Nachleuchten vom Paradies her" möglich wäre. Durch den Eintritt in unsere innerste Mitte gelangen wir hiernach zum dem, was wie eine innerweltliche Erfahrung von etwas Überweltlichem erscheinen mag – oder immerhin darauf abzielendes Befinden.

II.

Während der Moderne wird diese Gerichtetheit teils radikalisiert. Vorangegangen ist dabei John Cage mit einer Ästhetik auf dem Weg zur sich selbst aufhebenden oder vollendenden Stille, dem geistlichen Exerzitium benachbart. Nicht von ungefähr führt die Vorgeschichte seines 1952 uraufgeführten Konzept-Stücks 4'33'', in dem die ganze Zeit über alles stumm bleibt, zum Plan eines Silent Prayer. Sein Ziel formulierte der Kritiker des Dominanzanspruchs westlicher Aufgeklärtheit mit einer traditionellen Antwort aus Indien: "'den Sinn nüchtern und dadurch/ für göttliche Einflüsse empfänglich zu machen'". So könne "Etwas jenseits des Ich wirksam" werden.

III.

Einer der vorzüglichsten Vertreter Neuer Musik ist Sidney Corbett, 1960 als Sohn einer jüdischen Mutter und eines katholischen Vaters in Chicago geboren, Schüler von György Ligeti, seit 2006 als Professor für Komposition an der Mannheimer Hochschule für Musik und Darstellende Kunst tätig. Sechs Opern und drei Symphonien enthält die vorläufige Liste seines Schaffens, zahlreiche Orchesterwerke, vokal- und kammermusikalische Stücke ferner.

Wiederholt strich Corbett heraus, dass für ihn jedem kreativen Akt, dem Komponieren wie erst recht schon der ihr die Bahn bereitenden Inspiration, eine "spirituelle" Wertigkeit zukomme. Programmatisch bedürften sie der Haltung gleichsam meditativ empfänglichen Gewahrseins. Gar nicht eigens darauf hinzuweisen bräuchte dieser intime Kenner der Mystik verschiedener Kulturen, wie fundamental ihn das Bestreben "grober Annäherungen an das" leite, "was man vielleicht das Göttliche nennen könnte". Mannigfach und vielschichtig sind die religiösen Transparenzen und Fingerzeige im Œuvre selbst, bis hin zu direkten Vorgaben. Je nach Zählweise käme man auf bis zu 50 Nummern mit entsprechender Konnotation.

IV.

Jener Gestus der Hinwendung zum Un-Nennbaren: in dessen ans Schweigen rührender Anrede nicht zuletzt vermag er sich zu äußern. Bei Corbetts Zwei leisen Gebeten für 36 Stimmen etwa ist dies der Fall, einem (nicht nur was die Zahl der Aufführungen betrifft) frühen Klassiker unter seinen Arbeiten.

Textliches bleibt bei dem ersten Gebet, einem Choral mit der Vortragsbezeichnung "lento introspettivo", so gut wie Fehlanzeige. Zugrunde liegt ihm lediglich eine Kürzest-Silbe. Mit Nachdruck gesprochenes "Ö", der 27. Buchstabe des ungarischen Alphabets. Als Personalpronomen der dritten Person Singular kann dieser Umlaut dort sowohl "Er" als auch "Sie" bedeuten, das Neutrum "Es" außerdem. Scheinbare Gegensätze werden in einem umgreifenden Ganzen zunichte. Vorstellungen von Geschlechtlichkeit bleiben ja ohnehin kontingent – wie alles, unter dem die Wirklichkeit des Höchsten im menschlichen Bewusstsein Anker wirft. Das schlechterdings Nicht-Aussagbare entzieht sich unseren Unterscheidungen. Meisterhaft arrangiert die musikalische Umsetzung den Zusammenfall des Gegensätzlichen als Einheit von Fülle.

V.

Als "ein Kyrie" hat sein Urheber dieses Werk charakterisiert: Demuts- und Bedürftigkeitsgebärde, wie sie auch jedem gelingenden Werk anfanghaft ist. Zugleich handelt es sich bei diesem Wort um die Übersetzung von "Adonai", jenes hebräischen Gottesnamens, der im Zentrum von Teil II der Gebete steht. Corbett beschränkt sich hier auf den ersten Halbvers aus Psalm 37, 7 und versieht diesen (Selbst-)Appell eines Frommen mit dem Akzent striktester Sammlung. "Sei stille dem Herrn!" – das verweist nun auf einen "dem Zen-Zustand" ähnlichen Abstieg quasi in das Nichts: "Sei regungslos, entleere Dich, um die ganze Konzentration auf die Gottheit lenken zu können." Derlei Verfassung, die notwendig ist, um zu beten, bleibt auch unhintergehbar, um schöpferisch zu sein. Wie davor schon das "Ö" werden die vier Silben "Dom l'adonai" jeweils zu "Klangikonen" mit kontemplativer Ausstrahlung. Das Beiseite-Lassen klar definierter morphologischer Linien unterstreicht den in seiner Gestalt-Losigkeit nicht zu (er)fassenden Fluchtpunkt der Komposition.

VI.

Nun scheinen Schweigen und Beten allerdings nicht recht zusammenzupassen, denn wer betet, 'spricht' stets auf irgendeine Weise (selbst dort noch, wo ihm nur 'Leere' zu sein dünkt). Corbetts Zwei leise Gebete nehmen sich hier außerordentlich zurück. Ihr Stammeln, nur angedeutete Artikulation auf etwas hin, das sie nicht begreifen, grenzt der Stummheit an. Das zweite bleibt zum Ende, für über ein Zehntel seiner gesamten Dauer, (nach außen jedenfalls) dann völlig unhörbar. Nicht nur, dass die Komposition sich damit wieder in ihren Ursprung zurückzieht: das Schweigen, um vernehmen zu können. Der kräftigste Ton vor dem Horizont eines Un-Nennbaren nämlich mag die Stille sein – in der Hoffnung auf dessen einsetzende Stimme.

VII.

Verborgen ist dieser Gott. Absconditus. Mit dem zugehörigen lateinischen Adjektiv überschreibt Corbett eine seiner auf ganz andere Weise als die Leisen Gebete darauf bezogenen Werke. Dieses dreisätzige Duett für Violine und Cello geht einen anderen Weg der Erkundung, indem es die Frage nach der Beschaffenheit des Klangs selbst aufwirft, der Töne hinter den Tönen. Was tritt zutage, wenn man alles scheinbare Bescheidwissen tilgt? Handwerkliches und Hermetisches berührt sich hier, Anschlagtechniken und spirituelle Aspekte. Ohne Hinweis, wie es im Vortrag zu interpretieren wäre, harmonische oder melodische Strukturen nicht beachtend, treibt das Stück ein Spiel der Experimente. Dem langen Ausklingen in der Stille ähnlich, unter gegensätzlichem Vorzeichen, führt auch Absconditus an die Grenzen akustischer Wahrnehmung. Etwas könnte hier ebenso abwesend wie anwesend sein.

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