Der Zorn GottesSofia Gubaidulina schert sich nicht um ein Tabu

Welch eine Zumutung! Von Gott angenommen, ganz wie wir sind - sollte da noch irgendein Gericht über uns stattfinden? "Muss es so sein?", fragt eine der weltweit bedeutendsten Künstlerinnen unserer Zeit. In hohem Maße hörenswert ist ihre Antwort allemal.

Sofia Gubaidulina
Sofia Gubaidulina© Dmitri N. Smirnov, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

I.

Bedrohlich lange setzen die Tubas ein. Durch Schlaginstrumente unterstützt, lassen frenetisch hohe Holzbläser und flirrende Streicher eine Vorstellung wie von anhaltendem Wimmern entstehen. Mit schweren, absteigenden Linien werden sie gekreuzt. Dann kehren dissonantisch dunkle Tiefen des Anfangs wieder. Im Wechsel dreifach spiralförmig gesteigert, bauen diese Muster sich, bange Spannung erzeugend, zur Klimax auf. Plötzliche Stille schließlich, bevor das Ganze beschleunigt hell in den Kreisel eines Finales voller Erhabenheit mit Jubelfanfare mündet.

II.

Vor der Wucht und Drastik solcher Klangsprache samt ihrer dramaturgischen Ausfaltung gibt es kein Entrinnen. Unwiderstehlich trifft sie und zwingt in ihren Bann. Nur wenig über eine Viertelstunde dauert das fulminante Werk für Großes Orchester. Je aufmerksamer man es hört, desto mehr erschließt sich der Reichtum seiner Bezüge und ihrer Realisierung. Jene mathematische Klarheit etwa, welche Tonhöhen und -dauer, Rhythmen und Formverläufe strukturiert. Eine ebenso streng gebaute wie komplexe höhere Ordnung zugleich mag sie andeuten.

Erzählerische Absicht und Titel des Stücks erklären sich durch die Wirkung der Musik nahezu von selbst. Der Zorn Gottes lautet seine Überschrift. Sofia Gubaidulina der Name der Komponistin. 2019 fertig gestellt, ist ihre Arbeit inzwischen um den Erdball gegangen.

III.

Selbst wenn wir das hermeneutische Grundsatzproblem der Rede von Gott in Bezügen menschlicher Erfahrungswelt beiseite lassen, welche bekanntlich stets unsere Horizonte mit aussagt: Ein Gott, der droht, straft und vernichtet, geht gar nicht (für zeitgenössische Christen westlicher Herkunft jedenfalls). Unangenehm berührend, bleibt er als archaisches Relikt einer "ungeliebten Tradition" zu entschärfen oder besser noch: zu verschweigen, dem Tabu zu überantworten.

Soll Gott versprachlicht werden, dann (uns angehend) prinzipiell doch bitte nur mit extrem positivem framing. Großmütig hat er zu sein, barmherzig und gnädig, freundlich zugewandt, nett und gut, mit viel bestätigendem Verständnis, doch ohne jede Forderung an unser autonomes Leben. So, wie du bist, bist du o.k. Und so wird es von Gott auch hingenommen, wo nicht gar gewollt. Ganz wir selbst sein dürfen, ja sollen wir vor ihm. Eine Akzeptanz, die jeden status quo unsererseits ins Recht setzt, jede Erfüllung eines Gebots, jede Ab- wie Umkehr oder Läuterung hingegen unnötig macht. Worin immer wir uns ihm verweigern: der Herr aller Wirklichkeit tritt dawider nicht ein, sondern schaut nur zu, bedingungslos liebend. Irritationen, wo nicht gar Fremdheiten eines mysterium tremendum, eignen ihm entsprechend gleich gar keine. Bis zum Ende gilt das, und selbst danach. Die klassische Sequenz Dies irae in der Messe für Verstorbene wurde per Liturgiereform schon 1962/70 entsorgt.

IV.

Geht solchem sich aufgeklärt dünkenden Christentum (aus Furcht vielleicht auch, damit Angst auszulösen oder Druck zu erzeugen) indes nicht jeder existenzielle Ernst ab? Dass es nachgerade den Kitsch streift und eine Steilvorlage für alle liefert, die dem Glauben mit der Projektionstheorie zu Leibe rücken, kommt denen, die so denken/reden, ebenfalls weniger in den Sinn.

Nimmt man die Quellen zur Hand (wofern postmoderne Christen solche überhaupt noch benötigen), dann sind Zorn wie Gericht Gottes dort wiederholt zugegen. Nicht um dessen Wesen zu beschreiben übrigens, sondern als Zeichen seiner Macht und Gerechtigkeit. Auch Jesus hatte bekanntlich keine Illusionen über das, "was im Menschen war" (Johannes 2, 25). Unschwer wäre belegbar, wie der Aspekt des Grimms sich sehr wohl dem Zusammenhang der frohen Botschaft einfügt.

V.

Sofia Gubaidulina ist die weltweit wohl angesehenste Vertreterin Neuer Musik (welche sich bei ihr aus vielfältigen Wurzeln speist), eine der bedeutendsten Künstlerinnen unserer Zeit überhaupt – männliche Kollegen inklusive. 1931 in der autonomen russischen Republik Tartarstan geboren, zur Zeit der ehemaligen Sowjetunion den "falschen Weg" gegangen (d. h. jenseits des Sozialistischen Realismus), allen Vorgaben von außen gegenüber unbeugsam geblieben und daher manchmal in Schwierigkeiten mit der Obrigkeit geraten, international erst spät, dann aber mit beträchtlichem Erfolg entdeckt und vielfach ausgezeichnet, seit über drei Jahrzehnten in einem Dorf bei Pinneberg wohnend, steht die zierliche, bescheidene Frau mit der großen Aura noch im weit vorangeschrittenen Alter voller Elan auf der uneingeschränkten Höhe ihrer Kreativität.

Ja, bekräftigte sie im Vorfeld von dessen (während der Corona-Epidemie nur gestreamt durchführbaren) Wiener Premiere ihres Opus: Gott "ist zornig, böse auf uns Menschen, auf unser Verhalten. Wir haben Schuld auf uns geladen". Durch andauernde Friedlosigkeit und Zerstörung, mit jenem Hass als Ursache zumal, der allenthalben "mit einer solchen Kraft und Intensität heranwächst". Ihr Orchesterwerk ist eine Reaktion hierauf.

VI.

Zu den (nicht wenigen) großen Musikern der Gegenwart zählt Sofia Gubaidulina, deren Werk in einer dezidierten Religiosität verankert ist. "Ohne diese beiden Dinge", versichert sie "- meine Freiheit und meinen Glauben - konnte ich nicht komponieren". In die Wiege gelegt wurde letzterer ihr keineswegs. "Meine Familie war streng antireligiös, die ganze Umgebung auch. Ich weiß nicht genau, warum das in meinem Innersten gewachsen ist." 1970 ließ sie sich russisch-orthodox taufen.

"Während ich komponiere, bete ich", gab sie in einem Interview jüngeren Datums preis: "nein eigentlich spreche ich mit Gott". Primordial bezeugt er sich für sie durch Töne. Der Versuch, sich ihnen anzunähern, gehört zu jener "inneren Wahrheit", um welche ihre Musik sich leidenschaftlich bemüht.

VII.

Wenn Sofia Gubaidulina vom "Streben nach der Einheit mit dem Göttlichen im Urphänomen des Klanges" redet, davon ferner, dass die Musik, von ihrem Ausgang her wie mit ihren Mitteln, "das Endliche mit dem Unendlichen unmittelbar" verbinde, gerät diese daneben zur "bedeutendsten Form des Widerstandes der Menschheit gegen den geistigen Verfall" (der sich bei ihr auch im – dem "Legato" als Repräsentation des Göttlichen entgegengesetzten – "Stakkato" modernen Lebens zu spiegeln vermag).

Durch eine Gottverlorenheit besonders, die "Flachheit" grassierender Austrocknung des Glaubens, trete er zutage. Bar dieser Dimension aber existiert der ("im Grunde religiöse") Mensch für sie nicht umfänglich. Ihre ernsthafteste Aufgabe als Künstlerin sieht sie darin, dem entgegenzuwirken und (re-ligio ganz wörtlich genommen) an einer neuen Rückbindung zum Absoluten mitzuhelfen.

VIII.

Im Werk schlägt derlei sich vielfach nieder. Dort etwa, wo als zentrale Struktur immer wieder die Struktur des Kreuzes ("als Sein") erkennbar wird. Von Anfang an tragen viele ihrer Kompositionen in verschiedenen Genres spirituell konnotierte Überschriften: Introitus (1978) etwa, In Croce (1979/92), Sieben Worte (1982), Sonnengesang (1997) oder die Dilogie Johannes-Passion / Johannes-Ostern (2000/01), welche Evangelientexte mit solchen der Geheimen Offenbarung koppelt.

IX.

Durch einen (vor wenigen Monaten erst in Boston uraufgeführten) Prolog erweitert, ist Der Zorn Gottes dem "großen Beethoven" gewidmet. Dessen letztes abgeschlossenes Werk klingt darin an, der finale Satz seines sechzehnten Streichquartetts (Der schwer gefasste Entschluss) mit dem Motto "Muss es sein? Es muss sein!" Dabei kehrt Sofia Gubaidulina die Antwort um: Nein, so muss es nicht sein! – "dieser Anstieg des Hasses unter den Menschen" nämlich, wie er in der "Weltlage" nebst "allgemeiner Überspannung der Zivilisation" präsent ist.

X.

Bei einem der Konzerte wurde unmittelbar nach dem Zorn Gottes Sofia Gubaidulinas Einfaches Gebet gespielt, wie es die Komposition vorsieht am Ende auch gesprochen, um das vorher Gehörte auszudeuten. Sein Inhalt ist das früher Franz von Assisi zugeschriebene Herr, mache mich zu einem Werkzeug deines Friedens – wie das Orchesterwerk selbst weiterentwickelt aus ihrem Oratorium Über Liebe und Hass (2016/18). Ein in der Tat naheliegender Kontext des abgründigen Klanggewitters eröffnet sich damit, wahrscheinlich sogar die ihm verborgen eingeschriebene Zuversicht auf jene "heilende Kraft" der Musik, von der Sofia Gubaidulina überzeugt ist. Zur verändernden Katharsis soll ihre Darbietung von Gottes Tag des Zorns anstiften.

Dies freilich setzt voraus, dass wir uns verändern müssen. Dass es so, wie wir sind und uns verhalten, weder stimmt noch bleiben darf.

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