I.
Ein Schweizer Benediktiner-Pater aus dem Stift Einsiedeln verlässt an einem Samstagmorgen das Kloster, um allein auf einen Berg zu steigen. Der Himmel ist wolkenfrei, die Sonne lässt die Bergwelt in leuchtenden Farben erstrahlen – zunächst geht die Wanderung gut voran. Der Pater steigt höher und höher, doch als er die Baumgrenze erreicht, kommen heftige Windböen auf. In wenigen Minuten ziehen dunkle Wolken auf, der Himmel verfinstert sich, es donnert und blitzt, ein prasselndes Gewitter entlädt sich. Der Pater findet Unterschlupf in einer Felsspalte. Er wartet. Als das Gewitter verzogen ist, überlegt er, die Wanderung abzubrechen. Obwohl der Bergpfad durchnässt und glitschig ist, entscheidet er sich weiterzugehen. Mutterseelenallein steigt er weiter bergauf – und kommt an ein Wegkreuz, in das gerade der Blitz eingeschlagen ist. Das Corpus des Gekreuzigten ist verkohlt, es raucht noch. Der Feuerschlag des Himmels ist nicht mehr sichtbar, aber im Rauch und in den schwarzen Rissen des Holzes ist er augenfällig. Dem Pater fährt es durch Mark und Bein, der abwesende Christus – hier ist er da!
II.
Wie ein Gegenstück zu dieser Begebenheit, die der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann in seinen Wiener Poetikdozentur-Vorlesungen über das Kreuz in der modernen Literatur erzählt hat, liest sich eine winterliche Aufzeichnung aus den Strahlungen von Ernst Jünger: "Sodann vor einem Kruzifix. Kalt von der Dornenkrone hing der Reif in langen silbernen Fäden herab. Auch hatten die Augen Silberwimpern angesetzt, die leise im Lufthauch zitterten."
III.
Die Natur in den Extremen von Blitz und Frost – sie setzt dem Holz des Kreuzes unterschiedlich zu. Hier das vom Feuerschlag des Himmels getroffene und noch rauchende Wegkreuz, dort der von eisigen und im Wind zitternden Silberfäden umkränzte Kopf des Gekreuzigten. Orte der Unterbrechung, Inseln des zweiten Bewusstseinszustands im Meer des gewöhnlichen, Erfahrungen einer Anwesenheit des Abwesenden. Feuerschlag und Silberreif – ein Diptychon.
IV.
Phänomene der Nachträglichkeit: Der Rauch als Spur einer Transzendenz, die sich schon wieder entzogen hat, und die Eiswimpern, die im Lufthauch leise vibrieren, als Fingerzeig, dass das Nahekommen des Heiligen nur im Nachhall erfahrbar ist. Man fühlt sich an die Geschichte von Mose im Felsspalt erinnert, an dem die Herrlichkeit des Herrn vorüberzieht. Das Angesicht kann er nicht schauen, das würde ihn verzehren. Der Herr selbst, als hätte er einen Körper, hält seine "Hand" über Mose, damit dieser nicht sieht, bis Gott vorüber ist. Die Herrlichkeit des Herrn lässt sich nicht anders als vom Rücken her anschauen (Ex 33).
V.
Die Geschichte vom Vorübergang der Herrlichkeit des Herrn hat den kappadokischen Kirchenvater Gregor von Nyssa fasziniert. Er hatte ein waches Gespür für die göttliche Transzendenz und rang um eine Theologie, die dem Mysterium der Erhabenheit Gottes gerecht wird. Für ihn war der Transitus des Herrn ein klares Anzeichen dafür, dass sich Gott dem Zugriff unseres Begreifenwollens entzieht, ja dass wir Gott nur nahen können, wenn wir hinter ihm her gehen und ihm nachfolgen. Im lateinischen Westen hat der Augustinus die Rede vom "Rücken Gottes" in Ex 33,23 christologisch auf "die Person unseres Herrn Jesus Christus" hin gelesen. In seinem Werk De trinitate schreibt er: "Non incongruenter ex persona Domini Iesu Christi nostri praefiguratum solet intelligi, ut posteriora eius accipiatur caro eius" (De trin. II, 17, 28). Demnach ist es im Sinne einer freien Übertragung nicht unangemessen, in der Geschichte vom Vorübergang der Herrlichkeit des Herrn eine Vorausbezeichnung auf Christus hin zu erkennen und "seinen Rücken" auf "sein Fleisch" zu beziehen. Mit seinem Rücken hat Christus das Kreuz getragen und ist unter der Last zusammengebrochen. Sein Fleisch ist leidensfähig und verletzbar. Es ist der Ort, an dem die Spuren der Passion ablesbar sind. Hier scheint die Herrlichkeit in den verklärten Wunden auf, die Entäußerung und Erniedrigung nicht vergessen lassen.
VI.
Ist aber das Diptychon von Feuerschlag und Silberreif auch ein Gleichnis für die rettende und erlösende Kraft des Kreuzes? Das kommt auf die Betrachtung an. Thomas Hürlimann betont den Heimgang des Sohnes in das Haus des Vaters: der exitus der Passion führt in die exaltatio der Erhöhung und gibt der menschlichen Sehnsucht so eine Richtung. Die Bedeutung des Kreuzes lässt sich aber auch in den Satz fassen: Alle gegen einen – einer für alle! Ernst Jünger hat das einmal angedeutet, als er notierte, ein Einzelner könne "das Leid der Millionen auf sich nehmen, es aufwiegen, verwandeln, ihm Sinn verleihen". Der glühende Hass und der heiß gelaufene Beschuldigungsfuror aller bleiben unerwidert, die kalte Apathie und das zynische Kalkül – "es ist laufen ins Leere, werden vom einen erduldet, der von den anderen in die absolute Isolation getrieben wird. Am Kreuz ist es einsamer als im Gefängnis des Sokrates." Der Einsame aber bittet sterbend für seine Peiniger um Vergebung (vgl. Lk 23,34) – alles nimmt er hin, alles erträgt er – wehrlos: Agnus Dei, qui tollis peccata mundi. Das Kreuz steht – es steht als Zeichen für die bis ans Ende gehende Passion des einen für alle.
VII.
Crux stat dum volvitur orbis.