I.
Eine junge Autorin aus dem ländlichen Georgia und ihr erster Roman, Die Weisheit des Blutes (1952). Um Fanatismus geht es darin. Mit Schaum vor dem Mund verbreitet der Gründer einer "Kirche der Wahrheit ohne Christus" seine Heilslehren. Das Werk einer "Hillbilly-Nihilistin"? O nein, antwortet Flannery O'Connor, weit gefehlt: "Ich bin eine Hilbilly-Thomistin".
Und sie meint das ernst. Jeden Abend pflegt sie mindestens eine Viertelstunde den doctor angelicus aus Aquin zu lesen. In subtilen Referenzen prägt er ihr Werk.
II.
Die Mitarbeit am ehrwürdigen New Yorker wird ihr angeboten, dem Flaggschiff aller Kulturzeitschriften der USA. Flannery O'Connor aber hat keine Lust, wie auf den Literaturbetrieb überhaupt. Dafür bespricht sie zwölf Jahre lang, bis zu ihrem Tod 1964, Bücher für regionale Diözesanblätter. Mit einer Obergrenze von jeweils 300 Wörtern bringt sie dort schwierige philosophische und theologische Denker auf den Punkt: Jacques Maritain, Romano Guardini oder Teilhard de Chardin (der für sie zugleich ein großer Romancier war).
Ein Christentum, das sich "immer vager und vager (und sich immer mehr relativierend)" gäbe, das dem "Gefühl" anhängen würde statt dem "Gedanken", ist ihre Sache nicht. Am Ende stünde dabei doch nur, "dass Religion unsere eigene herzige Erfindung sei". Bloßen Bewusstseinsinhalten zieht sie die Gültigkeit eines Objektiv-Wahren vor.
III.
Für die Tochter aus alter Familie ursprünglich irischer Herkunft, der katholischen Minderheit im Bible Belt zugehörend, sind der Glaube und seine Praxis wichtig. Jeden Tag möglichst Besuch der Heiligen Messe. 2013 erst wurde ihr frühes Gebets-Tagebuch veröffentlicht. "Gern wäre ich auf intelligente Weise heilig", lautet darin eine für Flannery O'Connor höchst bezeichnende Bitte. Dann wieder sickern Fragen und Zweifel durch, auf die sie ohne Antwort bleibt: "Gibt es kein Entkommen aus uns selbst? In etwas Größeres hinein?"
Und stets geht es um den Konflikt, wie ihre Frömmigkeit sich mit literarischer Exzellenz vermitteln ließe. Könnte der von religiösen Überzeugungen imprägnierte Text gleichermaßen ein Kunstwerk eigenen Rechts sein?
IV.
Beides strebt sie jedenfalls an und ihre Arbeiten finden darauf eine sehr spezielle Antwort. Die Konfrontation mit dem harten what-is bleibt für sie leitend. Doch am realsten darin ist das Göttliche, mag es seiner Natur nach auch unsichtbar sein. Durch die Materie teilt Spirituelles sich mit. Rätselhafte Zeichen davon gerade wo es nicht zu vermuten wäre. Über Ecken und Kanten gespiegelt meist. Kein Abwesendes aber wird gesucht, sondern etwas, das da ist und sich hinter irritierenden Masken bezeugt. (Inkarnatorische Kunst, wenn man unbedingt so will.)
V.
Wer Flannery O'Connors Texte erstmals zur Hand nimmt, dürfte zunächst befremdet reagieren, verstört gar womöglich. Behelfsweise ordnet man sie der Rubrik des Southern Gothic Style zu, einer durch die Vorliebe für Düsteres, Grausiges und Groteskes inmitten der Sphäre des vermeintlich Normalen dominierten Schreibweise. Mit allen Abgründen innerer und äußerer Verdorbenheit das Personal wie die obwaltenden Zustände. Eine Gemengelage aus Stumpfsinn und Borniertheit, aus Ressentiment, Hass und Niedertracht, durchtränkt von Gewalttätigkeit.
Unerbittlich präzise wird Haarsträubendes geschildert, in lakonischer Verknappung, die Grenzen zur Karikatur hin überschreitend. Einer fast absurden Mixtur von Komik und Entsetzen ferner.
Ja, höchst "drastisch", verteidigt Flannery O'Connor sich in einem Essay, nehme sie ihre Figuren in den Blick. Vieles stimmt nicht mit ihnen. Bedürftige sind sie. Gekoppelt an eine "Schock"-Ästhetik der Wirrnis und des Elends menschlichen Lebens. Religiös gesprochen: dessen Befleckung mit der "Erbsünde".
VI.
Flannery O'Connors Lieblingsthema ist - aus unserem Wortschatz inzwischen fast verschwunden? - die Gnade. Versöhnliche Schlüsse kennt sie zwar nicht. Doch steuern ihre Erzählungen gern auf Auswüchse zu, wo Fiktionen der Menschen über sich selbst zerbersten. "Die Gnade verändert uns", kommentiert die Autorin, "und Veränderung ist schmerzhaft". Brutalitäten gehen ihr voraus und begleiten sie. Eine Durchtriebenheit dieser Kunst jedoch zeigt sich darin, dass es dem Leser anheim gestellt bleibt, deren Bedingungen und Vollzug nachzuspüren. Pädagogische Zeigefinger: Fehlanzeige.
VII.
Das Mysterium ist unerwartbar und kommt unerwartet. Im Schmutz, der wir sind, ereignet es sich, den Domänen des Bösen. Ihre Geschichten, erläutert Flannery O'Connor, legten nahe, "dass der Teufel einen großen Teil der Vorarbeit leistet, die notwendig ist, bevor Gnade wirksam" werden kann, einschneidend buchstäblich. Ohne ihn gehe es nicht. Und überhaupt: Den modernen Geist stürze das Geheimnis in beträchtliche Verlegenheit.
"A Christ-haunted world", so ließe es sich auch umschreiben: von Christus heimgesucht wird diese Welt, obwohl sie ihn doch faktisch verabschiedet hat.
VIII.
"Wenn Gott ist, woher dann die Übel? Wäre dem nicht zu entgegnen: Wenn es das Übel gibt, so ist Gott?" (Thomanische Theodizee.) "Mein Eindruck ist, dass Schriftsteller, welche im Licht des Glaubens sehen, heutzutage das schärfste Auge für das Groteske und Nicht-Hinnehmbare haben." (Flannery O'Connors Folgerung.) "Es gehört aber zur unendlichen Gutheit Gottes, Übel zuzulassen und aus ihnen Gutes hervorzubringen." (Thomas von Aquin, noch einmal.) Ein guter Mensch ist schwer zu finden. (Titel einer Geschichte Flannery O'Connors, 1953.)
IX.
In dieser, ihrer vielleicht berühmtesten, nehmen wir teil an der Irrfahrt einer banalen Durchschnittsfamilie mit katastrophalem Ausgang. Bizarr genug manövriert sie sich auf entlegener Landstraße in eine Panne hinein. Ein flüchtiger Gewaltverbrecher kommt hinzu. Nacheinander werden all ihre Mitglieder von ihm abgeführt und erschossen, zuletzt die etwas schrullige Großmutter. Sterbend "lächelt ihr Gesicht zum wolkenlosen Himmel hinauf". Und der Täter: "Es gibt kein richtiges Vergnügen im Leben!" Ende.
Was mag all dies "bedeuten"? Unverkennbar stecken die Akteure voller Verweise. Nur welchen? Schon kurz nach der Veröffentlichung waren kontroverse Deutungen im Umlauf, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Vielleicht hilft ja das dem Text vorangestellte Zitat des Kirchenlehrers Kyrill von Jerusalem weiter: "Der Drache sitzt am Straßenrand und beobachtet die Vorübergehenden. Passt auf, dass er euch nicht verschlingt." Eröffnet der Misfit durch seine Aggression die Chance zur verwandelnden Selbsterkenntnis im Moment des Todes? Überkommt ihn selbst danach in aller Schrägheit dessen, was er von sich gibt, eine Ahnung von dem, was da eigentlich geschehen ist? Ein heilender Einbruch der Gnade durch Auslöschung des Alten? Innerliches Sterben, um erst wirklich sein zu können?
"Vielleicht" gäbe es "andere Wege als meinen, die Geschichte zu lesen", so die Autorin in einem Brief, "aber keinen anderen, auf dem sie hätte geschrieben werden können."
X.
Vor fast genau hundert Jahren wurde Mary Flannery O'Connor (wie ihr voller Name lautet) geboren, am 25. März 1925. Lang hat ihr Leben nicht gewährt, keine vierzig Jahre. Ein Drittel davon überschattet durch Lupus erythematodes, einen seltenen Defekt des Autoimmunsystems, an welchem schon ihr Vater gestorben war. Was sie während dieser Zeitspanne schrieb, zählt zum Feinsten nicht nur der neueren amerikanischen Literatur. Nie ist das anregend-anstößiges Potenzial ihrer Badlands-Darstellungen erloschen. Man höre, sehe und lese nur umher, bei Bruce Springsteen etwa oder Nick Cave, bei Quentin Tarantino und vielen mehr.
XI.
"Ich schreibe mit einem festen Glauben an alle christlichen Dogmen", sagte sie. Doch auch dies: "Eine Geschichte taugt nichts, solange sie sich nicht erfolgreich der Paraphrase widersetzt."