Wie steht es um das Zueinander von Mythos und Offenbarung? Athen und Jerusalem kommen in der Absage an den Polytheismus überein. Aber der biblische Gott, der in der Geschichte handelt, lässt sich in philosophischen Kategorien nicht einfangen. Er bleibt nicht der Unerkennbare, sondern gibt sich zu erkennen, leidet und stirbt. Folgt die Offenbarung damit am Ende selbst dem Mythos von sterbenden Göttern?

I.

Das Verbot des Dekalogs, den heiligen Gottesnamen zu missbrauchen, bringt die hebräische Bibel in Gegensatz zu den griechischen Mythen, die einen spielerischen Umgang mit Götternamen kennen. Sie erzählen von Göttergestalten, die so menschlich sind wie die Menschen. Sie sind unberechenbar und launenhaft, lassen sich entflammen, begehen Ehebruch, betrügen und bekämpfen einander. Die Vorstellung eines friedlichen Götter-Biotops, für die das pluralistisch gestimmte Publikum heute Sympathien hegt, ist eine spätmoderne Projektion, die Rivalität und Streit unter den Göttern großzügig ausblendet. Der Plural an Göttern aber wird durch das mosaische Bekenntnis zum Singular Gottes in Frage gestellt: "Du sollst keine anderen Götter neben mir haben." Das Bekenntnis zum wahren und einzigen Gott fordert Treue. Schon der schielende Seitenblick auf andere Gottheiten wird da als Abfall verdächtigt. Apostaten werden gebannt und ausgeschlossen.

II.

Im Horizont der Mythen muss nicht geglaubt werden. Im Raum der Offenbarung aber tritt der Mythos zurück. Gott spricht – und sein Wort zielt nicht auf Achselzucken und Gleichgültigkeit, es wirbt um eine Antwort, die den Einsatz der ganzen Existenz verlangt.

III.

Die Theologie der Kirchenväter war einige Jahrhunderte damit beschäftigt, den Glauben an die Menschwerdung des Wortes Gottes so zu erläutern, dass nicht die leiseste Erinnerung an mythische Metamorphosen aufkommt. Sie war an der Antithese von Mythos und Logos interessiert und schlug sich mehr auf die Seite der Philosophen als die der Dichter. Der Logos, von dem im Johannes-Prolog die Rede ist, bot schon den frühchristlichen Apologeten die Möglichkeit, mit den Denkangeboten der griechischen Philosophie ins Gespräch zu kommen. Der Inkarnationsglaube aber sollte nicht verwechselt werden mit der Erscheinung von Göttern in Menschengestalt und auch nicht erinnern an Apotheosen sterblicher Menschen, die wegen überirdischer Schönheit oder heldenhafter Taten in den Olymp aufgenommen wurden.

IV.

Dennoch gibt es Ausnahmen: Justin der Märtyrer konzediert etwas leichtfertig, die Botschaft vom Gottessohn sei doch gar "nicht etwas Neues", der Mythos der Griechen kenne doch auch Söhne des Zeus. Auch Tertullian gesteht in seiner Apologie zu, dass der Glauben an die Jungfrauengeburt wie eine "Fabel" wirke, die "den euren ähnlich ist" (similis est vestris), bevor er später die Wahrheit der Inkarnation von diesen Fabeln absetzt. Clemens von Alexandrien bezeichnet Christus als den "neuen Orpheus", der das alte Lied der Mythen und Mysterien ablöse. Man sieht an diesen wenigen Beispielen, dass auch die Dichtung Gesprächspotential für die Theologie bietet. "Nein, das Bündnis mit der Philosophie war gar nicht so selbstverständlich und gar nicht so unbedenklich, sofern sie sich als Religionskritik ausgebildet hatte und damit jederzeit auch Kritik des Christentums werden konnte", notiert Hans Blumenberg.

V.

Aber zunächst gibt es ein Bündnis zwischen philosophischer und biblischer Aufklärung: Die Mythenkritik der Vorsokratiker und die Götzenpolemik der Propheten Israels entlarven die vielen Götter als Geschöpfe der Menschen. Die Kirchenväter lassen – von Ausnahmen abgesehen – die mythische Theologie der Dichter und die politische Theologie des Staatskultes eher unbeachtet und wenden sich stattdessen der natürlichen Theologie der Philosophen zu, die das Wesen des göttlichen Einen vom bunten Götterpantheon abheben. Die Absage an die vielen Götter ist der gemeinsame Konvergenzpunkt.

Die biblischen Offenbarungszeugnisse sprechen anstößig konkret von einem Gott, der in der Geschichte handelt, der sich ein Volk unter Völkern erwählt, der sich erbarmt und zugleich richten und zürnen kann – und das geht über die abstrakte Gottesrede der Philosophen dann doch hinaus. 

Der Einspruch gebildeter Heiden, der höchste Gott sei transzendent und unwandelbar, er bleibe dem Kult unzugänglich, die vielen Götter aber rechtfertigten eine Vielfalt an Kultformen, die zum Erhalt des Staatswesens nötig seien, suchte die pietas zu wahren, provozierte aber die Rückfrage, wie man Götter verehren könne, von denen man wisse, dass sie auf die Erfindung der Dichter zurückgehen. Die intellektuelle Schizophrenie, die Wahrheit des göttlichen Einen erkannt zu haben, aber am sinnwidrigen Kult fiktiver Götter und blutiger Opfer festzuhalten, fand eine Alternative im "vernünftigen Gottesdienst" – der logike latreia (Röm 12,1). 

Hier wird Liturgie nicht nur auf den einen wahren Gott ausgerichtet, sondern findet auch im Leben durch den Dienst für andere entsprechenden Ausdruck. Aber auch die Allianz von griechischer Mythen- und biblischer Götzenkritik rief weitere Transformationen auf den Plan. Denn die biblischen Offenbarungszeugnisse sprechen anstößig konkret von einem Gott, der in der Geschichte handelt, der sich ein Volk unter Völkern erwählt, der sich erbarmt und zugleich richten und zürnen kann – und das geht über die abstrakte Gottesrede der Philosophen dann doch hinaus und reichert diese an mit Geschichte und Bund, mit Inkarnation und Passion. 

VI.

Der gnostische Doketismus, der dem Erlöser einen Scheinleib zuschreibt, als hätte dieser die Inkarnation nur simuliert, hat eine größere Nähe zum Mythos. Der Erlöser verkleidet sich nur, er geht eine Metamorphose ein, um sich den Menschen auf menschliche Weise zu nähern, ohne selbst Mensch zu werden. Die conditio humana bleibt dem "fremden Gott" unter der Maske des Menschen bei aller Nähe fremd. Der gnostische Heiland schreckt vor der Heillosigkeit von Welt und Geschichte zurück. Er hat nur ein corpus phantasticum und darf mit der bösen Materie – dem "Fleisch" – nicht befleckt werden. Gerade so aber erleidet das gnostische Projekt der Erlösung Schiffbruch: "Quod non assumptum, non est sanatum – Was nicht angenommen wurde, das ist nicht geheilt."

VII.

Die menschlichen Götter im Pantheon entlasten den Menschen vom Auftrag, der Heiligkeit Gottes nachzustreben. Bekehrung, Nachfolge und Mission sind im Polytheismus unnötig.

VIII.

Im Mythos kann verglichen werden, in der Bibel ist der HERR unvergleichlich. "Ich bin der Erste, ich bin der Letzte, / außer mir gibt es keinen Gott // Wer ist mir gleich?" (Jes 44,6f). Der mythologische Komparativ weicht dem theologischen Superlativ! Die Einzigkeit des HERRN (vgl. Dtn 4,6) duldet neben sich keine Götter und macht diese zu "Nichtsen" (Jes 41,29). Im Mythos können die Namen der Götter ausgetauscht und übersetzt werden – Zeus und Hera werden in der interpretatio latina zu Jupiter und Juno. Der unaussprechliche Gottesname, das heilige Tetragramm, ist nicht übersetzbar, es sprengt jedes Pantheon.

IX.

Die Polemik der Kirchenväter macht aus dem Pantheon der Götter ein "Pandämonium" – eine quirlige Heerschar böser Geister.

X.

Das freie Spiel der Mythen wird durch den strengen Monotheismus domestiziert, ja gebannt. Allerdings schreibt das Christentum den Gottesbegriff fort. Das Bekenntnis, dass Gott Liebe ist (1 Joh 4,8.16), schließt ein, dass die Wirklichkeit aller Wirklichkeiten keine einsame Monade, sondern Beziehung ist. Gewiss, im Judentum hat es schon vor der Zeitenwende Vorstellungen von "zwei Mächten im Himmel" gegeben wie die Vision des Propheten Daniel, wo der Hochbetagte mit weißem Haar dem Menschensohn "ewige Herrschaft" überträgt (Dan 7,13f), oder die Spekulation in den Sprüchen Salomos, wo die Weisheit als präexistente Größe eingeführt wird, die schon vor Erschaffung der Welt als "Handwerkerin" oder "Kind" (hebr.: amon) vor Gott spielt (Spr 8,22-30).

Das Mysterium des dreieinen Gottes hat Auswirkungen für die politische Theologie. Ein trinitarischer Gott im Himmel eignet sich nicht, autokratische Herrschaftsformen auf Erden zu legitimieren. An diese Lektion sind heute auch Patriarchen zu erinnern.

Doch alle binitarischen Vorstellungen im Judentum sind asymmetrisch und tasten das Bekenntnis zur Einzigkeit des Heiligen Israels nicht an. Die Pointe der trinitarischen Fortbestimmung des Monotheismus Israels aber ist es, dass es Gott in symmetrischen Relationen denkt. Zum Wesen des einen Gottes gehört es, immer schon Beziehung zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist zu sein. Das Mysterium des dreieinen Gottes hat Auswirkungen für die politische Theologie. Ein trinitarischer Gott im Himmel eignet sich nicht, autokratische Herrschaftsformen auf Erden zu legitimieren. An diese Lektion sind heute auch Patriarchen zu erinnern.

XI.

Das Feld zwischen dem einen und transzendenten Gott, der keine Götter neben sich duldet, und den Menschen, die seinen Namen bekennen, bleibt nicht dem einzigen Mittler, Jesus Christus, vorbehalten. Vielfältige Vermittlungen zum einen Mittler schieben sich dazwischen. Der weite Raum zwischen Himmel und Erde wird durch die Schar der Märtyrer, Bekenner, Apostel und Heiligen aufgefüllt und farbig bebildert. Jedem Heiligen wird ein Ressort zugesprochen, so dass sich für manche der Eindruck aufdrängt, der Elefantenmagen der katholischen Kirche habe sich das Erbe des antiken Polytheismus erfolgreich einverleibt.

In der Legenda aurea und anderen Heiligen-Viten sucht sich die religiöse Vorstellungskraft neue Ausdrucksmöglichkeiten. Allerdings gibt es den Referenzpunkt des Historischen, auf den Wert gelegt wird, um die Heiligen nicht als fromme Fiktionen stehen zu lassen. Doch wird dieser Referenzpunkt nicht selten als Absprungrampe genutzt, um die Heiligen als glänzende Vorbilder eines gottgefälligen Lebens von der Mattheit durchschnittlicher Glaubensbiografien abzuheben. Die leise Skepsis, ob es wirklich so gewesen ist, kann angesichts der meist dürftigen Quellenlage nicht mehr geklärt werden. Sie muss dem Hinweis Platz machen: Es wäre doch schön, wenn es so gewesen wäre!

XII.

"Die Wahrheit ist überschätzt" – sagt der Schriftsteller Michael Köhlmeier. Soll sie nun zurücktreten hinter schöne Geschichten, die von den Heiligen erzählt werden?

XIII.

Veritas filia temporis – die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit. Die Zeiten aber ändern sich, sollte das ohne Folgen sein für die Vermittlung der Wahrheit? Braucht sie nicht neue Geschichten, die verhindern, dass sie als verstaubte Reliquie im Depot vergangener Kulturgüter abgelegt wird? Soll die Dogmatik, die um eine kohärente Darlegung der Glaubenslehren bemüht ist, abdanken und der Ästhetik den Vortritt lassen? Mitnichten. Was in dogmatischen Formeln geronnen ist, braucht gewiss keinen Mythos, um kommunikativ verflüssigt zu werden. Wohl aber zeitgerechte Interpretationen und lebendige Zeugen, die neu erzählen, was einst geschehen ist, und ihr Leben in den Dienst des Erzählten stellen, so dass die Wahrheit performativ gewendet und bewährt wird.

XIV.

Nietzsche hat sich die Freiheit herausgenommen, den biblischen Gott wie ein Mythologe zu behandeln. Er hat ihn sterben lassen. "Der Mythos eines Gottes kann erklären, was seine Dogmatik nicht wahrhaben darf: weshalb nämlich diesem Gotte die Altäre erkalten, die Opfer sich der Schlachtung widersetzen, die Beweise seiner Existenz nicht mehr funktionieren, die Gebete von ihm nicht mehr erhört und die Wunder Vergangenheit werden – weil nämlich dieser Gott tot ist." (Hans Blumenberg) In der Tat ist Gottes Wort tödlich verstummt – und der Schrei des Gekreuzigten hallt am Karsamstag, dem Tag des Schweigens, nach. Der Mythologe, der darin ein unwiderlegliches Indiz für den Tod Gottes sieht, könnte das tödliche Verstummen vorschnell als letztes Wort gedeutet und damit die österliche Pointe der biblischen Offenbarung verfehlt haben, nach der auf Golgatha nicht Gott, sondern der Tod selbst gestorben ist. "In morte Christi mors mortua est – im Tod Christi ereignet sich der Tod des Todes" (Augustinus).

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