I.
Es gibt Denkmäler der Dankbarkeit. Wenn man von Köln aus Richtung Euskirchen fährt und den Nordrand der Eifel erreicht, dann kann man in Mechernich-Wachendorf die Bruder-Klaus-Feldkapelle besichtigen. Die Landwirtsfamilie Scheidtweiler hat sie auf ihrem Feld „aus Dank für ein gutes und erfülltes Leben“ errichten lassen. Der moderne Sakralbau ist längst zu einer Pilgerstätte nicht nur für gläubige Zeitgenossen, sondern auch für postmoderne Flaneure und Liebhaberinnen der Avantgarde-Architektur geworden. In der weiträumigen Feld- und Wiesenlandschaft steht die Kapelle da wie ein mittelalterlicher Wehrturm. Die Außenwirkung des auf fünfeckigem Grundriss errichteten Monolithen steht in auffälligem Kontrast zum Innenraum. Passiert man das stählerne Tor in Gestalt eines spitz zulaufenden Dreiecks, gelangt man in einen höhlenartigen Gang, der an den Seitenwänden markante Einwölbungen aufweist und nach oben steil zuläuft. Der Gang führt in ein zeltförmiges Inneres, wo eine kleine Sitzbank zum Verweilen einlädt. Eine Wasserlache spiegelt den Himmel. Einige Kerzen flackern auf einem Ständer. Ein leichter Wind kommt von oben, denn das Dach der Kapelle ist offen – ein architektonischer Fingerzeig: Die Welt ist nicht alles. Es gibt mehr. Es gibt anderes. Die Vertikale ist der Fluchtpunkt des Blicks. Von oben kommt das Licht, das in den dunklen Raum einfällt – als wolle es uns an das Auge Gottes erinnern: Deus providebit.
II.
Der Schweizer Architekt Peter Zumthor, geboren 1943, der mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, hat die Bruder-Klaus-Kapelle geplant. Ohne Honorar, dafür mit eigenen Vorstellungen, was Materialien und Bauweise betrifft. Der Landwirt Hermann-Josef Scheidweiler und er haben sich in der Verehrung des heiligen Nikolaus von der Flüe getroffen. Der Heilige ist Patron der Katholischen Landvolkbewegung. Wie eine Plakette auf der Eingangswand anzeigt, ist die Kapelle „gebaut zum Lobe Gottes und der Erde eingesegnet im Mai 2007, gewidmet dem heiligen Bruder Klaus, 1417–1487, Friedensstifter, Mystiker und Einsiedler in den Schweizer Bergen“. Zumthor hat im städtischen Wald von Bad Münstereifel 112 Fichten fällen lassen und die Stämme auf einer Bodenplatte aus Beton zu einer zeltförmigen Konstruktion zusammengestellt. Dann hat er das Zelt aus den Baumstämmen von außen befestigt durch eigens gestampfte Beton-Lagen. 24 Schichten von jeweils einem halben Meter waren erforderlich, um die Kapellenhöhe von zwölf Metern zu erreichen. Danach wurde das Fichtenholz im Innern durch ein Köhlerfeuer drei Wochen lang ausgebrannt. Nichts blieb zurück außer den Negativabdrücken der Stämme in den Wänden. Lichtpunkte durch mundgeblasene Glaskugeln perforieren die Wand wie kleine Sterne den nächtlich-schwarzen Kosmos.
III.
Die Bruder-Klaus-Kapelle ist anders als andere Sakralräume. Sie feiert die Alterität des Heiligen, wenn sie alles, was die Sammlung behindern könnte, streng zurücknimmt. Es gibt nichts, was Bilderfeinde reizen könnte: Keine Bilder, kein Gestühl, kein Ambo, kein Altar, kein Tabernakel! Es gibt aber auch nichts, was Bilderfreunde vermissen würden. Ein karger Raum lädt die Passanten ein, für einige Minuten die bunten, immer schnelleren Lebenswelten hinter sich zu lassen und einzutauchen in einen Raum der Stille.
IV.
„Kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung.“ (Johann Baptist Metz).
V.
Man kann nicht so bleiben, wie man ist, wenn man dem Heiligen nahekommen will. Aus der Zerstreuung führt es in die Mitte. Schon bei Hölderlin heißt es: „Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht, / Aufzubrechen. So komm! daß wir das Offene schauen, / Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.“ Das ausgebrannte Kapelleninnere steht für die transformative Kraft des Heiligen. Feuer als Zeichen der Transzendenz begegnet schon in der Geschichte vom brennenden Dornbusch, in dem Mose der Heilige Israels begegnet ist. Auch die Form des Zeltes ruft den Assoziationsraum der alttestamentlichen Bundesgeschichte auf. Im Offenbarungszelt ist Mose der Herrlichkeit des Herrn nahegekommen, die sein Gesicht zum Leuchten gebracht hat. Das mobile tabernaculum war der Ort, an dem der Immanuel Israels seine Gegenwart erfahren ließ. Bei der Wanderung durch die Wüste waren die Wolke am Tag und die Feuersäule bei Nacht Zeichen seiner Nähe. Im Prolog des Johannes-Evangeliums wird darauf angespielt, wenn es heißt: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gezeltet.“ (Joh 1,14) Die Inkarnation als dichteste Form der Schekhina, der „Einzeltung“ Gottes unter uns. Auch der homo viator heute, der nach Spuren der verborgenen Gegenwart Ausschau hält, ist dankbar für Räume, in denen sich Erfahrungen von Selbsttranszendenz ereignen können.
Nikolaus von der Flüe selbst ist von der transformativen Kraft des Heiligen erfasst worden. Seine Biografie erzählt vom Einbruch des Anderen ins Leben. Er hat seine Frau und seine zehn Kinder zurückgelassen – eine verstörende Entscheidung, die mit dem Einverständnis der Familie erfolgt ist. Auch hat der wohlhabende Bauer seine öffentlichen Ämter als Ratsherr des Kantons und Richter seiner Gemeinde niedergelegt – zur Verwunderung vieler seiner Zeitgenossen. In der Ranftschlucht hat er seiner Sehnsucht nach radikaler Nachfolge Gestalt gegeben und ein Dasein als Einsiedler und Asket geführt. In seiner Klause ist er für viele Menschen seiner Zeit – Arme und Einflussreiche – zum geistlichen Ratgeber geworden. Im Sinne einer zeichenhaften Anbindung an das Wirken von Bruder Klaus steht in der Zumthor-Kapelle ein zeitgenössischer Bronze-Kopf von Hans Josephsohn, in den eine Reliquie des Friedensheiligen eingelassen ist. Dessen ex-zentrische Frömmigkeit gibt dem neuzeitlichen Autonomie-Pathos einen beherzigenswerten Fingerzeig: Wahre Selbstbestimmung besteht darin, sich vom Willen des himmlischen Vaters bestimmen zu lassen.
VI.
Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir,
was mich hindert zu Dir.
Mein Herr und mein Gott, gib alles mir,
was mich fördert zu Dir.
Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir
Und gib mich ganz zu eigen Dir.
(Nikolaus von der Flüe)