I.
In den Neunzigerjahren war die blühende Landschaft der Esoterik ein Anzeichen dafür, dass die "Gottesebbe" mit religiöser Ehrfurcht vor kosmischen Energien und diffusen Kräften durchaus einhergehen konnte. Die unsichtbare Religion jenseits der kirchlichen Institution schien zu florieren. Weichere Varianten der Gottesbestreitung hatten einen kämpferischen Atheismus beerbt, der seine Kraft vor allem aus der Geste der Negation bezog. Mit der Abdankung Gottes aber war auch den Atheisten die Größe abhandengekommen, gegen die sie sich aufbäumen konnten.
Doch neuerdings mehren sich die Anzeichen dafür, dass auch die frei flottierende Religiosität verdunstet. Die esoterischen Erben des Gottesglaubens sind in die Jahre gekommen. Die Säkularisierungsschübe befördern eine Gesellschaft ohne Gott. Die These, dass eine selbst gebastelte Religiosität ohne Kirche, ohne gemeinsames Gebet und rituelle Praktiken dauerhaft den Glauben der Kirche ablösen könnte, scheint sich mehr und mehr als soziologische Fiktion zu entpuppen. Immer mehr haben vergessen, Gott vergessen zu haben. Sie leben ihr Leben und vermissen nichts. Was, "wenn nichts fehlt, wenn Gott fehlt" (Jan Loffeld)? Auch der bekennende Atheist müsste einen Phantomschmerz empfinden, wenn das Achselzucken gegenüber der Gottesfrage zum Massenphänomen wird. Auf den Trümmern der großen Atheismen konnte sich die religionsfreundliche Gottlosigkeit ausbreiten. Was aber gedeiht im Raum des religiösen Vakuums? Wenn das Diesseits total wird, scheint die alte Annahme, dass jeder Mensch eine religiöse Antenne habe, widerlegt. Sollte Karl Rahners Wort, dass der Mensch ohne Gott sich zum findigen Tier zurückkreuze, eine alteuropäische Unterstellung sein, die sich nicht halten lässt?
II.
Schon den forsch auftrumpfenden "neuen Atheisten" war eine skeptischere Haltung gegenüber der eigenen Gottesskepsis zu wünschen. Nicht nur Gläubige müssen ja durch das Purgatorium atheistischer Rückfragen hindurch. Auch der Atheist sieht sein Credo der Rückfrage ausgesetzt, ob der Gott, den er verneint, nicht ein selbst fabriziertes Konstrukt ist. Nicht unwahrscheinlich, dass Sartre den Gott der Leibniz’schen Theodizee und Russell den Weltenurheber Newtons negiert hat, dass also der Gott, den das 20. Jahrhundert geleugnet hat, erst im 17. Jahrhundert erfunden wurde. "Natürlich konnte Nietzsche lediglich eine Attrappe, eine Maske Gottes, für tot erklären." (Botho Strauß) Kann man aber heute den Leuten, denen Gott und Transzendenz völlig schnuppe sind, empfehlen, dass sie über ihre eigene Gleichgültigkeit ins Grübeln kommen sollten? Wäre das mehr als ein frommer Wunsch?
III.
Gläubige können über ihren Glauben nicht verfügen, sie sind immer auch Anfechtungen ausgesetzt – das postum veröffentlichte Tagebuch der Mutter Teresa ist ein beredtes Zeugnis solcher Gottesverdunkelung. Entsprechend kennt der Ungläubige Situationen, in denen er an seinen Gotteszweifeln zu zweifeln beginnt. Der Un- oder Halbglaube wird für einen Augenblick brüchig. Mag es unverhofftes Glück, ein ästhetisches Erlebnis oder die Erleichterung sein, nur knapp einem schweren Unfall entronnen zu sein: Auch der Glaube, nicht glauben zu können, ist vor Zweifeln und Anfechtungen nicht sicher. Wo aber die Welt fugendicht abgeschlossen ist, kann ein Unbehagen an der Immanenz gar nicht erst aufkommen. Es ist, wie es ist.
IV.
Es gibt Leerstellen, die sich auftun, wenn Gott als Adressat menschlicher Selbstverständigung wegbricht. Die drückende Last, versagt zu haben, an wen soll man sich wenden? "Er hat niemanden, den er um Gnade bitten könnte. Der stolze Glaubenslose! Er kann vor niemand niederknien. Sein Kreuz." Oder unerwartetes Glück – an wen soll man den Dank richten? "Das Schwerste für den, der an Gott nicht glaubt: dass er niemanden hat, dem er danken kann." (Elias Canetti) Oder die Klage über das niederschmetternde Unrecht in der Welt: Verhallt sie im Nichts, wenn keine himmlische Instanz da ist, von der man Antwort erhoffen könnte?
V.
Woran glaubt, wer nicht glaubt? Steht am Ende der gähnende Abgrund des Nichts, in dem alles verlöschen wird, oder gibt es ein Leben, das keinen Tod mehr kennt? Vielleicht ist die Hoffnung, die dem Wort "Gott" eingeschrieben ist, doch nicht bare Illusion. Immerhin konnte ein marxistisch inspirierter Philosoph wie Ernst Bloch am Ende seines Lebens auf die Frage, ob er an ein Leben nach dem Tod glaube, das kategorische Nein hinter sich lassen und nachdenklich antworten: "Peut-être – kann sein." Und ein Dichter wie Gottfried Benn, der vor dem Wort "Gott" als schlechtem Stilprinzip gewarnt hat, konnte im Blick auf das Atheismusproblem notieren: "Ein Jesuitenpater, der die Freundlichkeit hatte, mir zu schreiben, sagte: Ein Mensch, der Gott so unabhängig und so in der Ferne sieht wie Sie, ist mir lieber als einer, der sich immer so nahe auf ihn bezieht und alles Mögliche von ihm erwartet. Ich füge hinzu, niemand ist ohne Gott, das ist menschenunmöglich, nur Narren halten sich für autochthon und selbstbestimmend. Jeder andere weiß, wir sind geschaffen, allerdings alles andere liegt völlig im Dunklen. Die Frage ist also gar nicht, ob Gott oder Nicht-Gott, die Frage ist nur, ob man Gott in sein Leben verarbeitet, ob man ihn verwertet, ihn unmittelbar für seine Lebensart benötigt."
VI.
Ob der Glaube an Gott einem menschlichen Bedürfnis entspringt, ist zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen strittig. Wie der Nichtgläubige den Glauben an Gott nicht widerlegen kann, sollte der Gläubige die Motive für den Unglauben nicht einfach beiseiteschieben. Das epistemische Unvermögen, wissenschaftliche Forschung und biblischen Offenbarungsglauben zusammenbringen zu können, kann ebenso ein Grund sein wie abgründige Erfahrungen, die sich in eine Sinnperspektive nicht mehr integrieren lassen, oder das Gefühl der Verlorenheit in einer Lage metaphysischer Obdachlosigkeit. Der fromme Atheist hat Gründe dafür, warum er nicht glaubt – oder glaubt, nicht mehr glauben zu können oder zu wollen. Nicht selten weiß er aber auch um das, was mit dem Glauben verloren geht. "Der fromme Atheist ist einer, der daran leidet – und an nichts mehr leidet als daran –, Gott nicht existieren lassen zu können" (Hans Blumenberg). Es wäre unklug, wenn Theologie auf solch melancholisch gefärbte Äußerungen mit Abwehrreflexen reagierten. Aber wie reagiert sie auf blinzelnde Zeitgenossen, die ihr kleines Glück vor dem Bildschirm finden?
VII.
Wie bitte – Gott? Ich glaube doch nicht an Gott, ich bin Realist!
Wirklich? Aber fehlt nicht dort, wo Gott als Wirklichkeit nicht mehr wahrgenommen wird, in der Wahrnehmung der Wirklichkeit selbst etwas?
VIII.
Spielarten des Unglaubens: das entschiedene Nein der Gottesbestreitung (Atheismus), der schleichende Abfall der Gläubigen (Apostasie), das Jein der Indifferenz und das entschiedene Pochen auf Unentscheidbarkeit (Agnostizismus), das Irrewerden an Gott durch Erfahrungen von Missbrauch und Gewalt (Gottesverdunklung), die hohl gewordene Routine und floskelhafte Rhetorik der Gottesdiener (ekklesialer Atheismus), das langsame fading des Gottvergessens (Glaubensmüdigkeit), das Vergessen, Gott vergessen zu haben (Theo-Demenz).
Nicht zu vergessen die schwachen Gotteszeugen, die hätten reden sollen, aber geschwiegen haben (Aphasie).
IX.
Das Versteckspiel. Rabbi Baruchs Enkel, der Knabe Jechiel, spielte einst mit einem andern Knaben Verstecken. Er verbarg sich gut und wartete, dass ihn sein Gefährte suche. Als er lange gewartet hatte, kam er aus dem Versteck, aber der andere war nirgends zu sehen. Nun merkte Jechiel, dass jener ihn von Anfang an nicht gesucht hatte. Darüber musste er weinen, kam weinend in die Stube seines Großvaters gelaufen und beklagte sich über den bösen Spielgenossen. Da flossen Rabbi Baruch die Augen über und er sagte: "So spricht Gott auch: Ich verberge mich, aber keiner will mich suchen." (Aus Martin Bubers Erzählungen der Chassidim)
X.
Solange Gläubige und Ungläubige um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Gottesglaubens ringen, sind sie von letzten Fragen umgetrieben, für die der religiöse Indifferentismus und seine Zwillingschwester, die neopagane Verblödung, allenfalls ein Achselzucken übrighaben.
XI.
Der Bürger, der vergessen hat, dass er getauft ist, will sonntags ausschlafen und nicht gestört werden. Als bräuchte er keine Weckzeichen, die ihn aus seiner Glaubensmüdigkeit herausrufen. Wie das Glockengeläut daran erinnert, dass Gott uns nicht vergessen hat, so ist der Kirchturm im Häusermeer unserer Städte ein Fingerzeig nach oben, dass diese Welt nicht alles ist.
XII.
"Wer heutzutage noch Wunder braucht, um zu glauben, ist selbst so etwas wie ein großes Wunder, weil er in einer gläubig gewordenen Welt ungläubig geblieben ist." Dieser Satz, der sich in Augustinus' Spätwerk De civitate Dei (XII, 8) findet und die enorme Erfolgsgeschichte des antiken Christentums im Rücken hat, ließe sich unter Bedingungen der durch Aufklärung und Religionskritik hindurchgegangenen Gegenwart beinahe umkehren: Wer heutzutage an Gott glaubt, ist selbst so etwas wie ein Wunder, weil er in einer weithin säkular gewordenen Welt gläubig geblieben ist.
XIII.
Eine Folterszene aus Aleksandar Tišmas Erzählungen Die Schule der Gottlosigkeit (1993): Ein Peiniger foltert einen jungen Mann – hart und ohne Rücksicht. Der Folterer hat einen Sohn im gleichen Alter und denkt sich: "Wenn es Gott gäbe, würde mein Sohn vielleicht auch sterben oder Schaden erleiden." Als der junge Mann an den Folgen der Folter tatsächlich stirbt, befürchtet der Peiniger das Schlimmste. Wenig später erfährt er aber bei einem Telefonat mit seiner Frau: "Nein, unserem Sohn geht es eh besser." Darauf kniet er nieder und betet: "Lieber Gott, Danke, dass es dich nicht gibt!"
XIV.
"Wer nicht an Gott glaubt, glaubt nicht an nichts, sondern an alles." (Chesterton)