Glaubensreste im KerkerVor Franz Kafka branden letzte Fragen an

Am 3. Juni jährt sich der Todestag des weltweit vielleicht meistgelesenen Schriftstellers deutscher Sprache zum hundertsten Mal. Unser Zeitgenosse ist er nach wie vor. Nicht zuletzt religiös Verortetes war zentraler Gegenstand seiner Reflexionen. Wichtige Anstöße enthalten sie. Ihnen sich auszusetzen könnte ergiebig sein.

In Zürau. V. l. n. r.: Mařenka (eine Magd), Kafkas Cousine Irma, seine Schwester Ottla, Julie Kaiser (seine Sekretärin in der Prager Arbeiter-Unfallversicherung), Franz Kafka
In Zürau. V. l. n. r.: Mařenka (eine Magd), Kafkas Cousine Irma, seine Schwester Ottla, Julie Kaiser (seine Sekretärin in der Prager Arbeiter-Unfallversicherung), Franz Kafka© gemeinfrei/Wikimedia Commons

I.

Kleine Erlebnisse großer Männer ist die Gedichtreihe überschrieben, welcher folgende Strophe zugehört: "Kafka sprach zu Rudolf Steiner:/ 'Von euch Jungs versteht mich keiner!'/ Darauf sagte Steiner: 'Franz,/ Ich versteh' dich voll und ganz!'" Ob er hier nicht etwas geschummelt hat, der Erz-Anthroposoph, wie Robert Gernhardt ihn zu Wort kommen lässt? Den Mega-Klassiker der Moderne aus Prag zu begreifen, was er an Unverwechselbarem hinterlassen hat, umfassend gar: so recht gegeben sein mag das niemandem.

II.

Kafka: das ist einer, der Vielfach-Botschaften ausstreut. Durch ihren offensichtlichen Rätselcharakter – ohne irgendwelche Zweifel an der inneren Stimmigkeit dadurch – lassen uns diese Texte nicht los: kristallklar erzählte Alpträume einer fremd-realen Wirklichkeit, voll von ausweglos erlittenen Niederlagen, verwirrend und verstörend, mit eigentümlichem Humor bisweilen.

Die Verwandlung in ein ekliges Insekt – der hohnvoll autoritäre Türhüter an der Schwelle des Gesetzes – die obskure Unvermeidlichkeit der Anklage vor dem allgegenwärtigen Gericht – das obsessiv begehrte, doch nie erreichbare Schloss. Solche Kafka-Tableaux gehören längst wie zu unserer Folklore, keineswegs bloß der intellektuellen.

III.

Verstrickung und Vergeblichkeit, Angst und Schuld sind bei ihm ebenso die Regel wie ein Atomisieren jeglichen Sinns ins Absurde. Wo derlei verhandelt wird, betritt man unweigerlich auch das Feld religiöser Diskurse. Spuren dazu legt der Autor selbst.

Ein Zipfelchen sich verflüchtigender Glaubens-Gewissheiten hat er nach eigenem Bekunden nicht mehr erhascht. Obschon jüdischer Herkunft, lernte Kafka Überlieferungen wie die Kabbala oder den Chassidismus erst später kennen. Mit ähnlichem Interesse wie sie hat er in der Bibel gelesen, beiden Testamenten, und manches daraus seinen Arbeiten einverwoben. An der wiederkehrenden Bezugnahme auf die Vertreibung aus dem Paradies durch den Sündenfall besonders vermöchte das demonstriert zu werden. Im Tagebuch einmal als "Wüten Gottes gegen die Menschenfamilie" bezeichnet, gerät sie in verschiedenen Bild- und Handlungsmustern des Werks zu einer Art Urszene für jegliche Art von Ausschluss, Isolation, Desorientierung und Scheitern.

IV.

Mitte August 1917 wird bei dem 34jährigen Lungen-Tuberkulose diagnostiziert. Zum Genesungsurlaub fährt er nach Nordwestböhmen, in ein kleines Dorf, wo seine Lieblingsschwester Ottla auf dem Gut ihres Schwagers lebt. Während der Folgemonate entstehen hier knapp über hundert durchgefeilte Notate, die Zürauer Aphorismen. Dass jenes "Gedankengestöber" bis heute nicht übermäßige Beachtung gefunden hat, mag auch daran liegen, wie der Autor hier direkt sonst kaum gehandhabtes Vokabular bemüht. Vom "Bösen" und eben der "Sünde" ist mehrmals die Rede, von "Wahrheit" und "Ewigkeit" des Weiteren, vom "Glauben", dem "Himmel" oder der "geistigen Welt". Theologische Grundierung allenthalben. Als "angegriffen von letzten Fragen" gibt Kafka sich explizit zu erkennen. "Über die letzten Dinge klarwerden": das sei notwendig, teilt er dem Freund Max Brod gesprächsweise mit.

V.

Ich zitiere daraus Nr. 50: "Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können. Eine der Ausdrucksmöglichkeiten dieses Verborgen-Bleibens ist der Glaube an einen persönlichen Gott."

Zwei Sätze zum Nachsinnen. Nicht nur ob es, von den schlechthin bedürftigen Menschen abgetrennt, solch "Unzerstörbares" überhaupt gibt, 'an sich' also, bleibt offen. In ihnen selbst lokalisiert, scheint es, mit Ewigkeitswert durchaus, zugleich größer als sie zu sein. Woher aber käme jenes 'Prinzip'? Bringt das Leben (als seine eigene Bedingung sozusagen) es selbst hervor? Oder wächst es ihm zu? Doch woher? Ist es ein Zeichen? Doch wovon? Einem Absoluten? Und wenn der Glaube an Gottes Personalität für das Unzerstörbare blind macht: deshalb, weil er etwas mit dessen Vorstellung Gegebenes falsch ableitet, extern? Doch warum täuscht er selbst noch über das Bauen darauf hinweg?

VI.

Innerhalb der Aphorismen bereits gerät dieser Gedanke in Bewegung, nachfolgend erst recht: "Es gibt theoretisch eine vollkommene irdische Glücksmöglichkeit", schreibt Kafka an Brod: "nämlich an das entscheidend Göttliche zu glauben und nicht zu ihm zu streben. Diese Glücksmöglichkeit ist ebenso Blasphemie wie unerreichbar." Sonst nahezu wortgleich, bietet Nr. 69 aus Zürau statt des "entscheidend Göttlichen" noch das "Unzerstörbare in sich". Nun wird es, vor diesseitigem Horizont, offen divinisiert. Weshalb aber sollte, woran man glaubt (dazu in der Verbindung mit potentiellem Glück), unter der Gebotenheit des Verzichts stehen? Und was genau lästert diese Blasphemie? Das Defizitäre des "entscheidend Göttlichen"? Oder weil zu ihm am Ende besser Distanz einzuhalten wäre?

"Glauben heißt", kreist Kafka den zentral von ihm angesprochenen Akt weiter ein: "das Unzerstörbare in sich befreien, oder richtiger: sich befreien oder richtiger: unzerstörbar sein oder richtiger: sein." Dieses wiederum beinhaltet an anderer Stelle (nicht-heteronom belastetes) "Da-Sein". Eine dringliche Utopie für ihn. "Allein die einfache Tatsache unseres Lebens", schließt er seine Zürauer Serie ab, sei – als "wahnsinnige Kraft"! - "in ihrem Glaubenswert gar nicht auszuschöpfen".

VII.

Dass diese Gedanken Widersprüche nicht scheuen, wäre fast eine Verharmlosung. Voller Diffusität sind sie, als ob es gelte, Unvereinbares und Leerstellen nachgerade aufzusuchen. Begriffe und Ideen antworten, durchdringen und bestreiten sich. Ihren Gebrauch erachtet Kafka trotzdem als wichtig. Im Halbdunkel liegt freilich so gut wie alles. Zusammenhängen könnte das nicht zuletzt mit dem, worauf abgezielt werden soll.

VIII.

Unser Aufenthaltsort ist ein Gefängnis, aus dem selbst der Todeswunsch nicht herausführt. "Dieses Leben", laut Aphorismus Nr. 13, "scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar." Bei der Überstellung aus einer Zelle in die nächste aber bleibt noch ein "Rest von Glauben". Jetzt an einen "zufällig" den Gang entlang erscheinenden "Herrn" - wer immer dies sein mag -, der (allein?) Abhilfe schaffen könnte, während er den Häftling "ansieht" und verfügt: "Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir." Wenn es ein anderes Wort für solch rettende Intervention gibt, dann doch wohl: Erlösung. (In ihrer zaghaft emphatischen Sehnsucht ist das meine Lieblingsstelle bei Kafka.)

IX.

Ohne dort auflösbarer zu sein, spiegeln auch dessen Romane die aphoristisch angeschnittene Thematik, Das Schloss zumal. Ihr Höhepunkt ist der Monolog eines Beamten. Rhapsodisch beschwört er die Aussicht, gegen alle Entmutigung sei das titelgebende Ziel doch zugänglich. Extrem selten wäre dies zwar, und sollte einmal mehr als bloßes Gerücht daran sein, lasse sich die Begebenheit "förmlich dadurch unschädlich machen, daß man ihr, was sehr leicht ist, beweist, für sie sei kein Platz auf dieser Welt". Landvermesser K. (der ohnehin nur "versehentlich" zu Herrn Bürgel gelangt war) schläft unterdessen schon tief, derlei gegenüber entrückt oder taub.

X.

Wer immer von religiösen Fragen umgetrieben wird, dem bleibt Kafkas Werk eine ungemein fruchtbare Lektüre. Weil sie Herausforderungen bereit hält – gerade mit Blick darauf, worum es im Glauben, dem christlichen speziell und seinen Verheißungen, eigentlich geht. Auf vertrackte Weise grenzen beide womöglich Wand an Wand. Mit einem kaum sichtbaren Tunnel als Unterquerung.

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