I.
Januar 2025: Verkehrte Festwelt. Mitten in den Dry January hinein beschert das Tagesevangelium die Geschichte der Hochzeit zu Kana. Wasser wird zu Wein. Religiöse önologische Fülle wird verkündet, wo die säkulare körperliche Selbsterhaltung Enthaltsamkeit predigt. Was einst fest im weihnachtlichen Epiphanias-Zyklus eingepreist war, gerät zur religiösen Provokation. Beim Dry January wird allerdings Entzug und Enthaltsamkeit auf Zeit in das Gewand von "sich was gönnen können" verpackt.
"Der Dry January ist eine weltweite Bewegung von Millionen von Menschen, die sich einen Januar ohne Alkohol gönnen", titelt die offizielle Homepage zum Dry January. Es gehe alles säkular ganz niederschwellig zu. "Ganz einfach. Vom Neujahrstag bis am 31. Januar trinkst du keinen Alkohol. Ein Neujahrsvorsatz, der sich umsetzen lässt". Und falls, wer mitmache, "trotz Vorsatz einmal Alkohol" trinke, dürfe der getröstet sein: Es sei "nicht alles verloren … Dein Körper wird dir trotzdem dankbar sein". Körperdankbarkeit wird gefordert, und diese im Modus säkularisierter Gnädigkeit. Das Ziel ist freilich, durch konsequente Abstinenz "größte[…] Vorteile für Körper und Geist" zu erlangen. Dem Abstinenzler wird verheißen, dass "du natürlich … diese Vorteile … genießt". Entzug als Genuss … Fülle durch Leere. Es mag bezeichnend sein, dass die Bewegung Dry January Mühe hat, für ihre Kampagne ein kräftiges ikonisches Motiv zu finden. Wie inszeniert man auch mitreißend Entzug?
II.
Ein halbes Jahr zurückgesprungen: Paris – 26. Juli 2024. Die französische Hauptstadt denkt die Olympiade neu. Raus aus dem Stadion hinein in die Stadt, Sportler sind auf Booten auf der Seine unterwegs: Im Herzen der Stadt soll sich eben zur Eröffnung eine "cérémonie pleine de premières", eine "Zeremonie voller Premieren" ereignen. Cérémonie, das rituelle Verlegenheitswort einer religiös abstinenten Sozialisation mag symptomatisch sein. Im Unterschied zum Dry January überhaupt nicht bildverlegen erregt im Zuge dieser zeremonialen Inszenierung eine ausgerechnet von der alkoholfreien Biermarke "Corona cero" gesponserte bacchantische Kunstinstallation auf einer der Seinebrücken international religionsambivalente Erregung und einen Deutungsstreit um die zur Darstellung gebrachte Fülle.
Was ist da zu sehen? Der von Mohnblumen, Sonnenblumen und Rosen umkränzte, schlüpferblau bemalte Künstler Philippe Katerine verkörpert unter einer riesigen Servierglocke mit allerlei Weintrauben auf dem Kopf Bacchus. In seinem unmittelbaren Umfeld windet sich marienblau eingekleidet eine Performerin mit Sternenkrone und tief ausgeschnittenem Dekolleté. Sie wird wiederum umtanzt von Dragqueens um einen Catwalk herum, der sich als lange Tafel imponiert.
III.
Kurienerzbischof Vincenzo Paglia, Präsident der päpstlichen Akademie für das Leben, fühlt sich an eine Adaption von Leonardo da Vincis Abendmahl erinnert, reagiert scharf und spricht von einer "blasphemischen Verspottung einer der heiligsten Momente des Christentums". Frankreichs katholische Kirche äußert sich irritiert über "Szenen der Verhöhnung und Verspottung des Christentums". Bischof Stefan Oster als Sportbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz lobt wiederum insgesamt "ein eindrucksvolles Fest und ein großes Spektakel für alle Sinne", urteilt zugleich aber, das auf einer Brücke inszenierte "queere Abendmahl" sei nun ein Tiefpunkt der Feier gewesen. Das "christliche Menschenbild werde aufs Spiel gesetzt". Christen müssten gewahr werden, der "eigentliche Gegner einer Gesellschaft" zu sein, "die sich in atemberaubenden Tempo selbst" säkularisiere.
Der Sportbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Thorsten Latzel ordnet diese Inszenierung religionstopologisch vager ein und spricht von einer "religiös ideologisierte[n] Überhöhung von Sexualität". Heiner Bielefeldt als UN-Beauftragter für Religionsfreiheit schließlich gibt sich verhalten kritisch und spricht von "Feierlichkeiten mit grenzwertigen ästhetischen Manifestationen". Florian Eichel wiederum beeilt sich in der Zeit in Gestalt einer Argumentation von berauschender numerischer Schlichtheit festzustellen, mit einer Assoziation an das Abendmahl sei diese Kunstinstallation völlig falsch eingeordnet. Man müsse doch nur nachzählen. Um den Tisch bzw. Laufsteg tummelten sich keine zwölf queeren Apostelfiguren, sondern wechselnde Zahlen von Personen. Zu denken sei viel eher an ein heiliges Voguing, an eine freie an die homosexuelle Subkultur von New York Harlem anknüpfendes Tanzperformance also, in der sich auf friedliche Art Rivalen tanzend "duellieren". Der niederländische Kunsthistoriker Schoonenberg weiß es besser. Zur Darstellung komme ein "Tableaux vivant", das an das Gemälde "Fest der Götter" von Jan van Bijlert erinnere.
IV.
Das nicht unerhebliche Rauschen durch den kritischen Blätterwald, an dem auch ein Elon Musk teilnimmt, versucht bereits zwei Tages später – am 28. Juli 2024 – das IOC in einem offiziellen Statement einzufangen. Einzige Intention der Eröffnungszeremonie sei gewesen, Gemeinschaft und Toleranz zu feiern. Niemals habe man gegenüber religiösen Gruppierungen oder Glaubenseinstellungen respektlos sein wollen. Die Performance selbst wird nicht deutend eingeordnet, schon gar nicht von dem Künstler selbst.
Am Ende ist der Anstoß, den die Performance erregt, doch kalkuliert: In der bacchantischen Fülle eines Anspielungsreichtums, der eine Fülle der Deutungen in einer nichteindeutigen ikonographischen Lage zulässt, liegt bisweilen die List der Blasphemie. Wer sich darüber empört, wird einer irreführenden Vereindeutigung geziehen.
V.
Nun hat die bacchantische Tradition mit der Hochzeit von Kana mehr zu tun als auf den ersten Blick zu erwarten wäre. In der antiken Literatur sind diverse Berichte über Weinwunder des Gottes Dionysos dokumentiert, von Pausanias über Diodorus Siculus bis zu Lucian. Aus diesen geht hervor: Die griechische dionysische Kulttradition hat sich mit dem ägyptischen Vorläufer des Epiphanias-Festes verbunden. Das führte zu der Überzeugung, dass in der Nacht zum 6. Januar der Gott Dionysos auf Erden erscheine, um an Orten, die er leidenschaftlich liebt, Wasser in Wein zu verwandeln. Wunder der Fülle an Orten leidenschaftlicher Liebe …
Die christliche Adaption dieser bacchantischen Tradition beschränkte sich auf den Zeitpunkt und die Symboldynamik von Wasser und Wein. Sonst ist alles anders. Denn im Johannesevangelium ist Jesus unterwegs als das einzige und wahre Pleroma Gottes, als die Fülle des einen Gottes, wenn es da heißt: "Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade". Mit Jesus Christus, so prägt der Evangelist Johannes ein, bringt Gott Glanz von neuer und überraschender Qualität in die Hütte des landläufigen Festalltages und verkörpert in ihm die emanierende allanwesende Gottesherrlichkeit präzise identifizierbar in einem Menschen.
VI.
Das Weinwunder zu Kana führt diese inkarnatorische Ansage programmatisch als "erstes Zeichen" (Joh 2,11) programmatisch aus. Gottes Fülle ist großzügig, ist üppig. Sie stellt sich aber nicht zu einem bestimmten kalkulierbaren üblichen Festzeitpunkt ein. Sie kann auch nicht herbeigezwungen werden, sondern trifft gerade auch dann ein, wenn die Stimmung aus Mangel an festlichen Mitteln zu kippen scheint (Joh 2,10). Die eigenen Lebenszusammenhänge, persönlich zusammengelebt, sind Wasser, aus denen nur Gottes Fülle, aber Gottes Fülle auf jeden Fall Geistreiches entstehen lassen kann. Darin liegt die Kraft seiner Gnade.
VII.
Karl Rahner fragte deshalb einmal: "Wo gibt es die Fülle der Zeit in meinem Leben"? Fragend fuhr er in Epiphanias-Metaphorik fort: "Wo ist die Sternstunde, die das ganze Dasein in sich fasst?" Und antwortete: "Ich habe nichts, weil ich es früher erwarb … Der Schatz der Vergangenheit ist die Freiheit der Zukunft". Es kommt darauf an, dass Gott diese Freiheit ausgestaltet. Deshalb schließt Rahner diesen Gedankengang so ab: "Was bringt das neue Jahr für mich? Gott in der Fülle meiner Zeit!"
Diese Gabe aber können weder die blasphemophilen bunten Inszenierungen von Paris noch ein Dry January infrage stellen. Gottes Fülle wirkt in ihrer Gnade zu der von Gott bestimmten Zeit wie ein Getränk voller Gravitas … würdigt den Lebensdurst in besonderer Weise … verleiht dem Leben etwas Festliches, stiftet Gemeinschaft und stillt elementar Lebenssehnsucht.