Am 2. Dezember feiert der Schriftsteller Botho Strauß seinen 80. Geburtstag. Porträt eines Anwalts des Unzeitgemäßen, der brachliegende Schätze der Kultur und Religion in die Gegenwart einbringt.

I.

Der Schriftsteller Botho Strauß gehört zu den wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Die außergewöhnliche Anerkennung, die er durch seine frühen Theaterstücke und Erzählungen erlangt hat, ist seit seinen kritischen Interventionen zum Geist der Zeit – vor allem dem Spiegel-Essay Anschwellender Bocksgesang (1993) – einer deutlichen Reserve im offiziellen Kulturbetrieb gewichen. Er gilt seitdem als intelligenter Außenseiter, der vom Rand des Spielfelds immer wieder beachtenswerte Bälle einwirft, ohne an die früheren Erfolge anknüpfen zu können. Dabei ist der Dramatiker, Erzähler, Essayist und Aphoristiker Botho Strauß ein Meister in der Kunst, das ganz normale Chaos der Liebe in den spätmodernen Gesellschaften zu schildern.

In Bänden wie Paare, Passanten (1981), Niemand anderes (1987) oder Wohnen, Dämmern, Lügen (1994) hat er die fragiler werdenden Beziehungswelten in brillanten Prosa-Skizzen eingefangen, das flüchtige Glück des Sich-Findens und Gefunden-Habens, aber auch die Tragik des langsamen Auseinanderlebens, das Sich-Einnisten von Untreue und Verrat, Verstörungen, die am Ende zum Bruch führen. In seinen Aufzeichnungen ist er als wacher Zeitdiagnostiker hervorgetreten, der einen Sinn für die brachliegenden Schätze der Tradition, aber auch eine punktgenaue Wahrnehmung für die Risse im Gehäuse der Immanenz hat. "Es gibt verschüttete Grundelemente, die heute vielleicht nur in Sekundenbruchteilen von Erleuchtung wieder sichtbar werden", hat er 2003 in einem ZEIT-Gespräch mit Ulrich Greiner bemerkt.

Als transzendenzsensibler Schriftsteller hat Strauß das Unaussprechliche als mitlaufende Dimension nicht nur der Wirklichkeit, sondern auch der Sprache im Blick. "Es entkräftet die ganze Sprache, wenn es keine Worte mehr gibt, die um des Unaussprechlichen willen gesprochen werden." Zugleich ist er als Chronist kaum merklicher Verluste hervorgetreten, die mit dem anhaltenden Fortschritt von Technik und Wissenschaft verbunden sind. Dabei hat er eine gewisse Theologieresistenz in der Kultur der Gegenwart ausgemacht:

"Alles, was heute ans Transzendente und Theologische rührt, verabscheut unsere kritische Spaßintelligenz. Dass der Gedankenreichtum, der über die Jahrhunderte hinweg in der Theologie versammelt ist, heute so gut wie nie in die intellektuelle Auseinandersetzung geholt wird, halte ich für ein großes Versäumnis. Nun bin ich ja kein Theologe. Ich präzisiere lediglich das Detail aus einer transzendenten Gestimmtheit. Diese ist gegenwärtig kaum noch mitteilbar. Ich bezweifle, dass das auf die Dauer so bleiben wird."

II.

Unter seinen Aufzeichnungen finden sich solche, die auf die Verschiebungen der religiösen Landschaft ausdrücklich Bezug nehmen. So hat Strauß in seinem Band Die Fehler des Kopisten (1997) auf die klassische Säkularisierungstheorie, die im Gefolge Max Webers mit zunehmender Modernisierung der Gesellschaft ein Absterben von Religion glaubte prognostizieren zu können, so reagiert:

"Die Macht der Religionen geht ihrem Ende zu ... Wie oft las man es nicht in den Gedankenwerken der Moderne! (Und ich zuletzt wieder in Canettis 'Masse und Macht'.) Und dann ersteht die Macht der Religion aufs neue. Noch im selben Jahrhundert, da man sie totsagte. Erhebt sich wieder, nur eben an ungeahnter Stelle, wie im Fall des Islam. Die neue Teilung der Sphären ist längst vollzogen. Die eine Seite führt den Glaubenskampf, die andere ringt um tieferes Verständnis für den Andersgläubigen. Es wäre ja auch denkbar, die eigene sakramentale Identität in solchem Konflikt wiederzuentdecken oder zu stärken."

III.

An dieser Aufzeichnung ist mehreres bemerkenswert. Zunächst ist nicht die Religion tot, sondern die soziologischen Theorien, die ihr Absterben prognostiziert haben. Die triumphale Erzählung der westlichen Moderne, dass mit dem Fortschritt von Wissenschaft und Technik, mit wachsendem Wohlstand und sozialer Sicherheit die Quellen der Religion versiegen würden, ist nach Strauß selbst in die Krise geraten. Wer näher hinschaut, kann eine gewisse Wiederkehr der Religion registrieren, die die Aufzeichnung "an ungeahnter Stelle" – am Erstarken des Islam – festmacht. Es gibt natürlich auch andernorts säkularisierungsresistente Formen von Religion.

Was die Kirchen anlangt, so schwindet ihre Bindekraft, der gesellschaftliche Individualismus setzt den religiösen Gemeinschaften zu. Religion flackert auf in den vielfältigen Suchbewegungen von Menschen, die sich mit ihrer transzendentalen Obdachlosigkeit nicht abfinden wollen, und ist auch da registrierbar, wo Intellektuelle eingeschliffene Diskursgewohnheiten und ironische Distanzierungsreflexe dem Glauben gegenüber hinter sich lassen und an ihren Gotteszweifeln zu zweifeln beginnen. Öffentlich sichtbar schlägt sich die Renaissance von Religion heute – über ein Vierteljahrhundert nach der Aufzeichnung von Strauß noch deutlicher – im Bau von Moscheen nieder, die in unseren Städten an die Seite der Kathedralen und Kirchen treten. Strauß spricht von einer "Teilung der Sphären". Der öffentlichen Präsenz des Islam steht eine Form von christlicher Religion gegenüber, die an einem "tieferen Verständnis des Andersgläubigen" arbeitet.

Das Zweite Vatikanischen Konzil hat das hermeneutische Ringen um das Anderssein des Anderen angestoßen, ohne die Arbeit an den Traditionsbeständen des Eigenen zu vernachlässigen. Das polemische Gift, das im konfessionalistischen Zeitalter das Verhältnis der Katholiken zu Lutheranern und Reformierten schwer belastet hat, ist der ökumenischen Verständigung gewichen. Die Lehre der Verachtung, die die Kirche über die "perfiden" Juden verbreitet hat, ist Geschichte, selbst die tief sitzende Reserve gegenüber den Muslimen, die als "Feinde des Kreuzes Christi" betrachtet wurden, hat offiziell einer Optik der Wertschätzung Platz gemacht (Nostra Aetate 3), ohne die Sorgen über die wachsende Präsenz des Islam ganz zerstreuen zu können.

Dass diese Haltung der Öffnung und Inklusion ambivalente Folgen haben kann, wenn sie nicht ausbalanciert wird durch die Arbeit an den Traditionen, spricht die Aufzeichnung unverblümt an, wenn sie der Alternative zwischen "Glaubenskampf" und "Öffnung" eine dritte Option an die Seite stellt, nämlich "die eigene sakramentale Identität in solchem Konflikt wiederzuentdecken oder zu stärken".

IV.

Der protestantische Schriftsteller, dessen vitales Interesse an der katholischen Kirche ihn in den 1990er Jahren bis an die Schwelle zur Konversion geführt hat (aber eben nicht darüber hinaus), bringt hier ein ressourcement ins Gespräch, das auf nicht weniger als "sakramentale Identität" abhebt. Nicht das Lesen in der Heiligen Schrift, sondern den Vollzug der Sakramente spricht Strauß hier an. Von anderen Zeichen unterscheiden sich Sakramente ja dadurch, dass sie die Wirklichkeit setzen, die sie bezeichnen. Sie lassen die reale Präsenz des Heiligen erfahren, die sich nicht machen, sondern nur empfangen lässt. Eine Kultur der Gastfreundschaft und Dankbarkeit, die der Andersheit des Anderen Raum gibt, statt sie verstehend anzueignen oder begrifflich zu vereinnahmen, wären hier angemessen. Die Suche nach einer sakramentalen Identität, die sich von der Gabe der Gegenwart bestimmen lässt, schützt davor, den jeweiligen Imperativen der Zeit blindlings zu erliegen. In seinem Nachwort zu George Steiners Real presences hat Strauß notiert: "Gegenwärtig beim Abendmahl ist der reale Leib Christus passus (d.i. im Zustand seines Todesopfers) unter der Gestalt des Brots. Das Gedenken im Sinne des Stiftungsbefehls ('Solches tuet aber zu meinem Gedächtnis') wird dann zur Feier der Gleichzeitigkeit, es ist nicht gemeint ein Sich-Erinnern-an-Etwas." Von daher hat er eine Ästhetik der Anwesenheit skizziert, die die Dichtkunst im Dienst der Anamnesis versteht.

Die kreative Anverwandlung der Sinnbestände der Tradition ist ein Widerlager gegen die Versuchung, sich den bunten Erfordernissen der Zeit chamäleonhaft anzugleichen. Darin liegt auch eine Lektion für Theologie und Kirche. Eine Kirche, die im Sinne der nachholenden Selbstmodernisierung dem Zeitgeist hinterherhechelt und immer nur ruft "Wir auch! Wir auch!" (Kurt Tucholsky), hat der Moderne nichts mehr zu sagen, weil sie zur Dublette der ohnehin vorherrschenden Moden geworden ist.

Botho Strauß hat in einem Beitrag für die F.A.Z. Joseph Kardinal Ratzinger als den "Nietzsche unserer Zeit" bezeichnet, weil dieser in Absetzung zur kommunikativen Verflüssigung des Glaubens dessen Widerständigkeit und Prägekraft zur Geltung gebracht hat. Statt Glaubensgeheimnisse wie Jungfrauengeburt und Auferstehung des Fleisches raffiniert umzudeuten oder als nicht mehr zeitgemäß zu verabschieden, hat Ratzinger gerade darin den "skandalösen Realismus" des Christentums gesehen. Das scheint Strauß beeindruckt zu haben. Wie er selbst für eine "Ästhetik der Anhänglichkeit" wirbt, die die Anbindung an die Kultur der Vergangenheit sucht, ohne diese nostalgisch zu verklären, so scheint er denen, die glauben oder zu glauben versuchen, zu empfehlen, die Schätze der Tradition nicht um eines anpassungsflinken aggiornamento zu verspielen: "Wo Überlieferung nichts mehr bedeutet, wird auch Erinnerung, im Sinne von Realpräsenz, Vergegenwärtigung nicht möglich sein."

V.

Die Anbindung der Gegenwart an das Vergangene bestimmt auch noch die Gestalt der Hoffnung, die nichts weniger als die Einbergung aller Dinge anvisiert. Können Lebende und Verstorbene in eine Communio versammelt werden, können die disiecta membra, die zerstreuten Glieder der menschlichen Gemeinschaft durch einen Akt des remembering of God zusammengefügt und vereinigt werden? Botho Strauß hat diese Hoffnung einmal tastend in die Frage gefasst: "Ließe sich etwas Tröstlicheres ausmalen, als zu den Ahnen versammelt zu werden? In die Wiederherstellung der Dinge überzutreten, um darin leicht zu leben?" Und er hat diese Frage mit dem leicht polemisch gefärbten Nachsatz verbunden: "Zum Glück bleibt der Glaube, zumal der Kinderglaube für Innovationen unzugänglich."

Die Hoffnung auf Wiederherstellung der Dinge wird allerdings getrübt durch die Einsicht in die eigene Fehlerhaftigkeit, die krummen Zeilen im Text des Lebens. Wird der eigene Name neben den anderen im Buch des Lebens verzeichnet sein? Die Frage zu beantworten, hieße das Jüngste Gericht keck vorwegzunehmen. Die Metapher des himmlischen Buches aufnehmend, hat Strauß in tastender Diktion eine eschatologische Fehlerbereinigung anvisiert: "Ich insgesamt bin eine Korruptele (verderbte Textstelle), und einzig der himmlische Editor könnte mich durch eine gnadenvolle Korrektur ersetzen und wieder lesbar machen."

VI.

Den heutigen Auslegern der Heiligen Schrift, die alles daran setzen, die Explosion der Christologie in den frühkirchlichen Bekenntnissen rückgängig zu machen, die nichts unversucht lassen, aus Jesus einen galiläischen Wanderrabbi zu machen und ihn historisch-kritisch in das Koordinatensystem des Wahrscheinlichen zu überführen, hält Strauß entgegen: "Unwahrscheinlicher als Jesus Christus ist nichts. Einen tieferen Glauben als den christlichen kann auch heute kein Mensch erlangen." Das erinnert an Peter Handke, der mit Blick auf den Gekreuzigten einmal gegen rationale Verflachungen aufbegehrt hat: "Das Gefühl für den leidenden Christus wappnet mich mit Zorn gegen die Vernünftler".

VII.

Wir leben im Westen in einer Epoche des Karsamstags, Gott scheint sich zurückgezogen zu haben. Er schweigt – wir aber reden. Kommunikation ist alles, als fehlte nichts. Was, wenn wir schwiegen – und ihn sprechen ließen? Das Schweigen könnte zum Ort der Begegnung mit dem Mysterium des Anderen werden, der sich in der Gestalt Jesu ein Gesicht und eine Stimme gegeben hat. "Wer aus dem Nichtverstehen des Ganz Anderen zurückkehrt, wird auch den anderen, den Menschen seiner Umgebung, mit größerem Nichtverstehen ehren." Dieser ikonoklastische Impuls sprengt die Schubladen und Schablonen geläufiger Einordnung auf, um wirkliche Begegnung möglich zu machen. Und das leise, aber eindringliche Werben für eine Kultur des Eingedenkens, die aus dem Kult der realen Gegenwart kommt, könnte einer Schilfrohr-Theologie, die sich schon mit der leisesten Böe des Zeitwinds dreht, die Standfestigkeit zurückgeben, die sie bräuchte, um der Zeit etwas zu sagen, was diese nicht schon selber sagt.

"Das 'Zurück-zu' ist die Wesensform der religiösen Erneuerung" – an dieses Wort von Max Scheler hat der Schriftsteller Botho Strauß erinnert. Das ist kein Appell zur Archivierung oder Einfrierung von Traditionsbeständen, sondern die Einladung, geduldig fortzuführen, was andere vor uns gedacht und geglaubt haben. Reform – das wäre ein Avantgardismus der Erinnerung, der unabgegoltene Potentiale der Vergangenheit aufspürt, diese in die Gegenwart einbringt und aktuelle Selbstverständlichkeiten von daher befragt. Statt das verbreitete Dogma der Anschlussfähigkeit kritiklos zu übernehmen, wäre eine unzeitgemäße Theologie nach Strauß die einzig zeitgemäße. Was für ein Anstoß!

Zuletzt ist von Botho Strauß das Buch "Das Schattengetuschel" erschienen. Hanser Verlag 2024. Mehr Infos

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