Heilfroh!Wie Joseph Haydn einmal Goethe zum Weinen brachte

Was steigt in uns auf, wenn wir an Gott denken? Irgendein Geratter abstrakter Begrifflichkeiten? Herunterbrechungen auf die Kirche? Dass er in keinem Falle unpolitisch sei? Ehrfurcht? Unbehagen? Gar nichts? Sicher gibt es dazu irgendwelche Studien. Erstaunliches wird vom Vater der Wiener Klassik berichtet.

Fertöd, Schlosspark Esterhazy: Haydn auf dem Weg. Bronzestatue von Tamás Baráz, 2013.
Fertöd, Schlosspark Esterhazy: Haydn auf dem Weg, eine Komposition bei seinem Dienstherrn abzuliefern, Fürst Nikolaus II., auf dessen Veranlassung er spät noch "alljährlich eine neue Mess zu Componieren" hatte. Bronzestatue von Tamás Baráz, 2013.© Hans-Rüdiger Schwab

I.

Karl Friedrich Zelter, Komponist von redlicher Begabung, Duzfreund des Weimarer Dichterfürsten, am 25. November 1823 in Gesellschaft: "Einst befragt, warum seine Messen so fröhlich und fast lustig? antwortete Haydn: 'Weil, wenn ich an den lieben Gott denke, ich so unbeschreiblich froh werde.' Als ich dies Goethen erzählte, liefen ihm die hellen Tränen die Wangen herab."

II.

Überlieferungsgeschichtlich früher liest sich der erste Teil dieser Kunde so: Als Haydn "an Gott gedacht habe, ihn sich nicht anders vorstellen konnte als ein unendlich großes und unendlich gutes Wesen, und dessen inne wurde, dass diese höchste der göttlichen Eigenschaften ihn so mit Vertrauen und Freude erfüllte, habe er das Miserere" – gemeint ist jenes der Schöpfungsmesse – "sogleich als Allegro setzen müssen". Guiseppe Carpani hält dies 1812 in seiner Biographie des Komponisten fest. Additional beglaubigend erwähnt er eigens die andere, kurz zuvor erschienene von Albert Christoph Dies. Dort wiederum wird ein "Freund" des Verfassers als Zeuge für die Selbstauskunft angegeben.

Mit Bezug auf "Äußerungen, wie ich sie von gutem Munde weiß", bringt Zelter schließlich noch eine weitere Variante in Umlauf, 1826 in Goethes Zeitschrift Kunst und Altertum: "Wenn ich an Gott denke", sagt Haydn hier, "so ist mein Herz so voll von Freude, daß mir die Noten von der Spule laufen. Und da mir Gott ein fröhliches Herz gegeben hat, so wird er mir's auch schon verzeihen, wenn ich ihm auch fröhlich diene."

III.

In nomine Domini beginnen alle größeren Partituren dieses Komponisten, mit Laus Deo oder Soli Deo Gloria schließt er sie gewöhnlich ab. Dreizehn konzertante Messen stammen von ihm. Von der Missa brevis in F (1749) bis zur Harmoniemesse dreiundfünfzig Jahre danach gehören das erste vorliegende seiner Werke wie das letzte vollendete unterschiedlichen Typen der Gattung an, flankiert von einem ferneren Spektrum geistlicher Werke, Einzelstücken (wie dem Stabat mater) oder, im Falle berühmt gebliebener Oratorien, groß angelegt.

IV.

Haydns Diktum empfundener Freude über Gott sollte einen ausgeprägten Zug seiner Kirchenmusik besonders erklären. Seit jeher wurde sie als erstaunlich heiter wahrgenommen. Das Feierliche hingegen, das Getragene und Weihevolle fehle diesen Messen. Mit dem Voranschreiten des 19. Jahrhunderts (und bis weit ins 20. hinein) schwoll derlei Tadel immer lauter an:

Zu leicht, zu schwungvoll, zu schwelgerisch jubilierend seien sie. Ernst, Würde und Erhabenheit des Anlasses vernachlässigend. "Skandalös lustig" gar (so Felix Mendelssohn Bartholdy). Den Sinngehalt der Worte nicht nachvollziehend, welchem doch der Vorrang gebühre. Liturgisch unangemessen daher. Und überhaupt: In Schemata profaner Fröhlichkeit solle/könne/dürfe Gott keinesfalls angesprochen werden. Gerade das Gegenteil aber entsprach offensichtlich Haydns Frömmigkeit wie seinem Kunstwollen.

V.

"Nahezu einen Kant der Musik" hat man den manchmal immer noch Unterschätzten neuerdings genannt, der Kühnheit und Originalität seiner kompositorischen Mittel wegen. Daneben und zugleich aber bewahrte Haydn wohl auch ein gerüttelt Maß an Befindlichkeit, die über das intellektuelle Erwägen hinausreicht. Nicht zuletzt in jenem ihm zugeschriebenen Zitat gibt sie sich zu erkennen.

Emphatisch lässt schon Zelter das entsprechende Deutungsmuster einfließen: "Haydn hat die Naivität zur Vollendung gebracht, er ist so rein, so mild, man möchte gleich jemandem etwas Gutes, Angenehmes erzeigen, wenn man ihn gehört." Derart ansteckend zu sein, ist übrigens nicht das Schlechteste.

VI.

Vielfach gilt jene Eigenschaft als ein kindliches Relikt. Durch obligate Aufklärung müsse es abgestreift werden. Andererseits scheint das frühe Lebensalter allerdings wesentlich mit Schöpfertum (und möglichem Wissen) verbunden. Hinweise darauf erfolgen nicht nur durch die Psychologie. Von den Romantikern bis hin zu gewichtigen Strömungen der Moderne – ob Dadaisten, Surrealisten oder Beatniks – wird das Kind nachgerade als Urbild des Genies geschätzt. Weil es sich – zum Beispiel – vom sogenannten Realitätsprinzip nicht an die Kette legen lässt. Weil es voller Neugierde und Spontaneität ist. Bereit, ihm unbekannte Wege zu gehen. Weil es noch in Welten universeller Zusammenhänge beheimatet zu bleiben vermag. Vor- oder trans-rational dringt (wenn man so will:) kindlich-phänomenale Wahrnehmungsweise daher vielleicht tiefer vor, sieht sie intuitiv teils schärfer. Durchbrüche ästhetischer Erkenntnis zumal werden dadurch begünstigt. Eine Fülle künstlerischer (Selbst-)Zeugnisse, von Programmen, Versuchen und Erfahrungen, ließe sich im Sinne solchen Verdachts anführen.

Unhintergehbar reflexiv zu sein und perspektivisch gleichwohl jenes Kind wiederzugewinnen, das wir einmal waren (oder unsere Kindheit wenigstens nicht zu verleugnen): darum sollte es gehen, individuell wie epochal. In gegenwärtiger Philosophie jedenfalls bleibt die Frage, ob und wie eine neue, "zweite Naivität"erreichbar sei, auf der Tagesordnung. An vorderster Stelle Paul Ricœur hat sie dort fortgeschrieben. Um eine umfassendere Wirklichkeit ahnen zu lernen, welche von der Wissenschaft allein nicht erkannt werden kann. Mythen mit "Einbildungskraft und Sympathie" sorgfältig nachzubuchstabieren, meint er, wäre eventuell von Vorteil.

VII.

Das mithin keineswegs nur für Künstler bedeutsame Ideal: im Neuen Testament gerät es zur Aufgabe des religiösen Menschen. "Wenn ihr nicht umkehrt" (d. h. anders als derzeit!) "und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen." So bringt Jesus sie auf den Punkt (Mt 18, 3). Kein Anlangen seiner Verheißungen ohne Naivität. Ohne die damit verbundene Fähigkeit zum Staunen und Vertrauen, zur Imagination, zum Für-möglich-Halten des Nicht-Erwartbaren. Dem Unbegreiflichen geöffnet. Gott-aufgeschlossen.

VIII.

Recht sorglos werden in der Wanderanekdote über Haydn Begriffe vermengt. Nun steht uns zur Sichtung sprachlicher Echokammern mit dem Grimmschen Wörterbuch ja nie fehlgehende Hilfe bereit. (Kaum einen anderen Schmöker durchforste ich so gern wie diesen wahrhaft Regale füllenden.) Was hält er über das Adjektiv "froh", dessen Ableitungen und ihre Assoziationsräume bereit? Fideles Gaudiburschentum findet sich hier nicht. Auf den Zustand des Erleichtert-Seins weisen sie vielmehr, un-beschwert, dem voller Freude, einen, der "mehr als Vergnügen" ist, "etwas weniger als Lust". "Dankbar" befindet sich im Umfeld, "zuversichtlich" auch, "hoffnungsvoll", und – siehe da! – "glaubensstark" sogar.

Ein Gemisch durchaus, welches die "naive" Befindlichkeit Haydns näher ausfächert. Froh über Gott: dass er ist und wie er ist. Das Allegro noch in unseren Miseren setzend. "Heilfroh" der innersten Wortbedeutung nach.

IX.

Wir müssen noch einmal auf Goethe kommen. Manche hätten bei Zelters Erzählung vielleicht angefangen zu schmunzeln. Doch der Olympier weinte. Besucher, die ihn "helle Tränen" haben vergießen sehen, lassen dies explizit mit einer Stimme voller "Rührung" einhergehen. (Und gewiss traten sie ihm nicht vor Lachen in die Augen, wohin sich ein Interpret von Haydns Messen 1941 kurioserweise verstieg.) Nach Zelters Andeutung hat sie hier vielleicht ganz versagt.

Wie Haydn lässt (als Reaktion darauf) Goethe den Blick in sein geheimstes Erleben zu. Sonst kein Freund christlichen mindsets, zeigt er sich bewegt darüber, wie unbefangen freimütig sich, Sicherheit beim kreativen Prozess gewährend überdies, ein Bewusstsein von Gehaltenheit äußert, das wohl kostbar und erstrebenswert ist, neuzeitlichen Geistesart aber so selten, ja fast unerreichbar fern geworden.

X.

Welch harte Nuss also, derlei Gipfel an Naivität!

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