I.
Das Gedächtnis ist ein abgründiges Phänomen. Manchmal, wenn wir uns etwas unbedingt in Erinnerung rufen wollen, versagt es. Es fällt es uns partout nicht ein, an was wir uns erinnern wollen, als sei es wie weggeblasen oder habe nie stattgefunden. Alle Anstrengung, es zurückzuholen, scheint vergeblich. Es gibt aber auch das gegenteilige Phänomen, dass wir etwas vergessen wollen, was uns unangenehm berührt hat oder belastet. Wir wollen vergessen, können es aber nicht, weil sich die Sache unauslöschlich dem Gedächtnis eingeprägt hat. Schließlich gibt es den Fall, dass uns etwas ganz unwillkürlich wieder einfällt, an das wir lange nicht gedacht haben, das uns untergründig vielleicht doch beschäftigt hat. Ein Geruch, ein Klang, ein Wort genügt, um das längst Vergangene im Gedächtnis wieder auferstehen zu lassen.
II.
Dieses Phänomen des uwillkürlichen Erinnerns – der mémoire involuntaire – hat der französische Schriftsteller Marcel Proust (1871–1922) in seinem siebenbändigen Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit literarisch zur Darstellung gebracht. Berühmt ist die sogenannte Madeleine-Szene. Als der Protagonist schon erwachsen bei seiner Mutter zu Besuch ist und das Aroma eines in Tee aufgeweichten Madeleine-Plätzchens kostet, steht, ohne dass er dies gewollt hätte, in seinem Gedächtnis die Welt seiner Kindheit wieder auf. Alles, die Farben, Gerüche, Eindrücke von früher, sind verdichtet wieder da, es kommt zu einer seltsamen Verschränkung der Zeit. Das literarische Werk von Proust zeigt, dass es neben dem willentlichen Erinnern auch andere Formen der Erinnerung gibt: das Gedächtnis, das versagt, und das Gedächtnis, das unwillkürlich durch einen äußeren Eindruck aktiviert wird. Überdies macht Proust deutlich, dass das menschliche Zeit-Bewusstsein nicht an das Gleichmaß der chronologischen Zeit gebunden ist. Es kennt vielmehr Sprünge, eigentümliche Kontraktionen und Verdichtungen.
III.
In dem Band Lettipark der Berliner Schriftstellerin Judith Hermann (Frankfurt 2016) gibt es eine Erzählung, in der ein einziges Wort die Erinnerung an längst Vergangenes freisetzt. Die geradezu kammermusikalisch komponierte Erzählung kommt mit nur zwei Figuren aus: Maude, eine Endzwanzigerin, die in einem mexikanischen Restaurant als Kellnerin arbeitet, und Greta, eine 83jährige Witwe, der ein großes Haus am Park gehört. Deren Kinder sind längst aus dem Haus und führen ihr eigenes Leben. Maude hat, als sie sich als Mitbewohnerin bewarb, ein ganzes Bündel von Fragen über sich und ihre Lebensgewohnheiten ergehen lassen müssen, aber ihre Antworten haben Greta gefallen, sodass sie ihr das Zimmer gegeben hat. Die beiden kommen gut miteinander aus, sie haben sich im Alltag aufeinander eingespielt. Maude geht nach der Arbeit oft zu Greta, spricht mit ihr, liest ihr etwas vor oder sonnt sich einfach auf deren Terrasse. In Gretas Wohnzimmer stehen hunderte von Büchern in Zweier- und Dreierreihen in ihren Regalen. Die Bibliothek bildet den ausgelagerten Gedächtnisraum einer Leserbiografie. Immer wieder zieht Maude ein Buch heraus, liest eine halbe Seite vor – und kann sogleich erkennen, ob Greta das Buch gefällt oder nicht. Auch wenn diese behauptet, nur einen Bruchteil der Bücher gelesen zu haben, so scheint sie doch alles zu kennen, was Maude ihr vorliest. Bei diesem Spiel des Vorlesens hat sich Maude zwei Sätze eingeprägt: "Nachhall von Liedern und von Leidenschaften wirft das Gedächtnis ab, bis nichts mehr bleibt" und: "Am Ende läuft uns das weiße Zicklein davon und wir verwaisen." Maude findet diese Sätze schön, Greta ergänzt, sie seien auch traurig. Gedächtnis und Abschied – damit sind im Modus des Zitats die Themen eingeflochten, die die Erzählung bestimmen.
IV.
Als Maude für zwei Wochen nach Italien reisen will, um Ferien an einem Bergsee zu machen, fragt sie sich, ob das angesichts des hinfälligen Zustands von Greta wohl verantwortbar ist. Immerhin liegt diese bereits seit zwei Tagen auf der Chaiselongue, isst fast nichts mehr und fühlt sich nicht gut. Maude kocht einen mexikanischen Kaffee und beginnt mit Greta ein Gespräch. Dabei ruft das Stichwort "Lago d'Iseo, Italien" bei dieser eine überraschende Resonanz im Echoraum ihres Gedächtnisses hervor. Unwillkürlich schießt ihr eine längst vergangene Episode durch den Kopf, die sich in den Tiefenschichten ihres Bewusstseins abgelagert hatte. Sie ringt damit, ob sie sie erzählen soll, tut es dann aber doch und macht dabei, wie Maude registriert, einen durchaus fiebrigen Eindruck. Vor fast 60 Jahren war Greta selbst am Lago d’Iseo. Sie erinnert sich an die eindrucksvolle Landschaft, die Sonne, die Berge, den See. Sie erzählt, dass sie sich damals in einem Liegestuhl sonnte, Campari trank und las, als sie plötzlich sah, wie ein kleines, feines Holz-Boot mit weißem Segel vom Wind abgetrieben wurde. Sie gab dem Jungen, dem das Schiffchen gehörte, keinen Hinweis, sondern wartete in einer Mischung aus sommerlicher Unbekümmertheit und Neugier ab, was wohl passieren würde. Erst als das Boot schon sehr weit auf den See hinaus getrieben war, bemerkte der Junge das Unglück und begann zu weinen. Sein Vater, ein athletischer Mann, sprang ins Wasser und schwamm mit sicheren und starken Schwimmzügen hinaus, um das Boot zu holen. Es sah zunächst gut aus, die Familie am Ufer wartete ... Doch der Mann kam nie zurück. Er war im See von einer Strömung erfasst worden und ertrunken.
V.
Diese Geschichte, die die alte Frau seit Jahrzehnten mit sich herumgeschleppt hatte, wird durch die Worte "Lago d'Iseo, Italien" unwillkürlich an die Oberfläche des Bewusstseins gespült – ein "Nachhall des Gedächtnisses", der sich in dem Augenblick bemerkbar macht, als Maude für ein paar Wochen gehen will und sie als "Waise" zurücklässt. Maude hat, während Greta erzählt, den Eindruck, als sei diese in ihrer Welt der Erinnerung angekommen, als habe das Vergangene die Gegenwart überlagert. Ihr liegt die Frage auf der Zunge, ob sie den athletischen Mann, den Vater des Jungen, gekannt habe, aber sie verkneift es sich aus Takt, hier weiter nachzufragen. Es könnte ohnehin sein, dass sie nach ihren Ferien Greta nicht mehr lebend antreffen wird.
VI.
Ein ganzer Schwarm von Fragen wird durch die Geschichte aufgeworfen: Was wäre passiert, wenn Greta damals den Jungen sofort auf das Abdriften des Bötchens hingewiesen hätte? Hätte die Tragödie dann verhindert werden können? Warum hat sie geschwiegen? War es Gedankenlosigkeit, jugendliche Fahrlässigkeit, Gleichgültigkeit? Es hätte alles nicht so kommen müssen ... Dass ihr Schweigen solche Folgen haben würde, war allerdings nicht abzusehen gewesen. Greta ist in das Knäuel des Unglücks mit hineinverflochten. Empfindet sie das als Schuld, die mit dem Mantel eines jahrzehntelangen Schweigens überdeckt wurde? Die Frage nach einem offenen Ohr, in die Schuld hineingestammelt werden könnte, nach einer Adresse, die die Last wegnehmen und vergeben könnte, stellt sich bei Judith Hermann nicht, aber zwischen den Zeilen ist sie da. In jedem Fall macht die Erzählung "Manche Erinnerungen" deutlich: Die sommerliche Leichtigkeit des Lebens und das dunkle Rätsel des Todes können nah beieinander liegen.