In der Philosophie der Moderne lässt sich eine verborgene Gegenwart Christi aufweisen. Das ist die These von Xavier Tilliettes "Philosophischer Christologie", die auf die Anregung eines früh verstorbenen Freundes zurückgeht. Der Gottesverlust und die metaphysische Heimatlosigkeit rücken dabei in den Blick und werden auf das Geheimnis des Karsamstags bezogen.

I.

Während des Winters 1946-47 brach im Ausbildungszentrum für Philosophie von Mongré bei Villefranche-sur-Saône eine Typhusepidemie aus, der ein junger hochbegabter Schweizer Jesuit zum Opfer fiel. Kurz vor seinem Tod berichtete er einem befreundeten Mitbruder von einem Vorhaben, das ihn schon länger beschäftigt habe. Es sei doch ein lohnendes Projekt, einmal der Gegenwart Christi in der modernen Philosophie nachzugehen. Er habe den Eindruck, dass Christus selbst den Denkern in der Geschichte des Denkens zunehmend nahegekommen sei – selbst dann, wenn diese das ausdrücklich bestreiten würden.

II.

Über vier Jahrzehnte später veröffentlicht der Mitbruder, der in Paris und Rom Philosophieprofessor geworden war, eine Studie zur philosophischen Christologie, die das Projekt einlöst und auf der ersten Seite dem Andenken des früh verstorbenen Jesuiten gewidmet ist. Sein Name ist Victor Oertig. Der Verfasser der Studien Philosophische Christologie, die dem Einfluss des Johannesprologs, des Philipperhymnus, der Bergpredigt und des Karfreitags auf das vielgestaltige Denken der Neuzeit nachgeht und christologische Spuren in der Philosophie von Kant, Schelling, Hegel, Nietzsche und Dostojewski umkreist, ist niemand anders als Xavier Tilliette SJ, der 2018 hochbetagt in Paris verstorben ist.

III.

Statt die philosophische Christologie der Moderne als Abfall von der dogmatischen Christologie der altkirchlichen Konzilien zu betrachten und die Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts denkfaul und orthodoxiebeflissen in die Galerie der Häretiker einzureihen, wirbt Tilliette dafür, ihre teils kühnen Deutungen als Anstoß für eine vertiefte Betrachtung des Lebens und Geschicks Jesu wahrzunehmen. Ja, er geht noch weiter und glaubt, "eine meist unbemerkte Gegenwart Christi" in der modernen Philosophie aufweisen zu können. Schon der aus der Synagoge ausgeschlossene Baruch de Spinoza habe Christus als "summus philosophus" bezeichnet und "den galiläischen Rabbi als einen Ahnen, einen erhabenen Vorgänger" angesehen.

Lässt das auf eine verborgene Präsenz Christi im Denken von Spinoza schließen? Er ist das "Vorbild wahren Lebens" – eine Sicht, die in der Schrift selbst angelegt ist und tiefe Spuren im Denken der Aufklärung hinterlassen hat. Statt eine pädagogische Deutung gleich als reduktionistisch beiseitezuschieben, kann etwa Lessing, der in seiner Erziehung des Menschengeschlechts Jesus als Lehrer und "bessren Pädagog" zeichnet, ebenso gewürdigt werden wie Kant, der die Moralität als Kern aller Religion freilegt und in seiner Religionsschrift Christus als geschichtliche Verwirklichung des göttlichen Menschen in uns vorgestellt hat.

In den philosophischen Christologien der Moderne, ja selbst bei Nietzsche, lässt sich so eine verborgene Präsenz Christi entdecken.

Im "Meister des Evangeliums" ist das Urbild der Vernunft zum historischen Vorbild geworden. Hegel folgt anfänglich dieser Spur, korrigiert dann aber entschieden die Kreuzesvergessenheit Lessings und Kants. In seiner philosophia crucis wird die Entäußerung des Sohnes Gottes bis in den Tod und die Erhöhung des Gekreuzigten zur dialektischen Triebfeder der Selbstbewegung des Geistes, der aus der Leere des Seins über die Gestalten der Entäußerung in der Geschichte zur Fülle seiner selbst findet. Philosophie ist bei Hegel auf den Begriff gebrachte christliche Religion. Das Kreuz aber sprengt jedes System. Kierkegaard rebelliert denn auch gegen die spekulative Aufhebung des Karfreitags und betont das Paradox der Menschwerdung, dass der Sohn die Gottesgestalt gegen die Knechtsgestalt eingetauscht habe und ohne Glanz und Herrlichkeit erschienen sei. Er wählt die Kategorien des 'Paradoxes', des 'Absurden', des 'Ärgernisses' und des 'Inkognito', um dieses Geheimnis immer neu zu umkreisen. Er fordert eine Nachfolge, die aus der Gleichzeitigkeit mit Christus kommt und die Konventionen bürgerlicher Religion hinter sich lässt.

Nietzsche schließlich, der mit Also sprach Zarathustra ein Gegenevangelium geschrieben und wild gegen das Mitleid polemisiert hat, bietet ebenfalls einen christologischen Impuls. In seiner Spätschrift Der Antichrist hat er einen Fluch gegen das Christentum ausgestoßen und zugleich in Jesus das Ja zum Leben gefeiert. Denen, die ihn hassten und verneinten, hat der Gekreuzigte das Ja seiner Liebe entgegengesetzt – was könnte es Größeres geben? In den philosophischen Christologien der Moderne, ja selbst bei Nietzsche, lässt sich so eine verborgene Präsenz Christi entdecken.

IV.

Einer besonderen Spur ist Tilliette in einem Essay nachgegangen, der 2005 unter dem Titel "Spekulativer Karsamstag" erschienen und einem anderen Freund gewidmet ist: Hans Urs von Balthasar (1905-1988). Dessen Theologie der universalen Hoffnung ist keine Theologie der billigen Gnade, die die Abgründe menschlicher Bosheit verharmlost, und keine Theorie der Allversöhnung, die allen den Himmel meint versprechen zu können, wie ihm nach Veröffentlichung des vierten Bandes seiner Theodramatik (1983) – Das Endspiel – Kritiker unterschieben wollten.

Der junge Ratzinger hat die Theologie des Descensus mit Blick auf das Kreuz für verzichtbar gehalten. Wenn Jesus Christus auf Golgotha für alle gestorben ist, wie Paulus wiederholt sagt, was soll dann die theologische Auslotung des Höllenabstiegs darüber hinaus noch bringen?

Der Heilsuniversalismus hat für Balthasar im Selbsteinsatz Gottes in Kreuz und Descensus seinen Grund. Christus habe im Reich des Todes die Verlorenheit aufgesucht, um am Ort des Kommunikationsabbruches neue Kommunikation zu ermöglichen und die Verlorenen zu retten. Der junge Ratzinger hat die Theologie des Descensus mit Blick auf das Kreuz für verzichtbar gehalten. Wenn Jesus Christus auf Golgotha für alle gestorben ist, wie Paulus wiederholt sagt, was soll dann die theologische Auslotung des Höllenabstiegs darüber hinaus noch bringen?

Doch Tilliette erinnert daran, dass Balthasar hier eine Spur des modernen Denkens aufnimmt: die Abwesenheit Gottes, das Gefühl der Leere, die metaphysische Heimatlosigkeit. In der "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab", die sich in Jean Pauls Roman Siebenkäs findet, hat sie eine eindrückliche Artikulation gefunden. Christus durchstreift die Welten und sucht seinen himmlischen Vater. Er steigt hinauf in die höchsten Höhen und geht in die tiefsten Tiefen hinab, aber er findet ihn nicht. Verzweifelt ruft er den zurückgebliebenen Menschen zu, dass wir alle Waisen sind ohne Vater im Himmel. Bei Jean Paul gibt es aus dem bösen Traum noch ein dankbares Erwachen, nicht so bei seinen Nachfahren Feuerbach, Marx, Nietzsche, Sartre oder der Gott-ist-tot-Theologie des 20. Jahrhunderts. Gottesverfinsterung – das scheint die Signatur der Epoche.

V.

Diese Sicht hat George Steiner noch einmal bestätigt. Er beendet sein Buch Real Presences (1989) mit der Diagnose, dass wir in einer Zeit des Epilogs leben. Der Tod Gottes – Karfreitag – liege hinter uns, ungewiss sei, ob es den Durchbruch zu neuem Leben – Ostern – gebe. Der Karsamstag aber sei lang, andauerndes Leiden, das Zerfasern des Sinns, der Sog des Nichts. In seinem Tagebuch vor Gott nennt auch Maurice Blondel den Karsamstag "unseren Tag" – aber aus anderen Gründen. Gewiss ist es der Tag, der zwischen Passion und Auferstehung liege, ein Tag des Wachens.

Wie aber der tote Christus ins Grab gelegt wurde, so die konsekrierte Hostie in den Tabernakel. An diesen Ort gilt es nach Blondel zurückzukommen und bei Christus auszuharren. Am Karsamstag aber ist Christus den Weg ins Äußerste abgeschritten. Sein Mitleid mit den Verdammten kennt keine Grenzen, es reicht tiefer als der tiefste Abgrund. Inferno profundior. Das Mysterium der Verlassenheit Christi habe Blondel zeitweilig so ergriffen, dass er sich selbst als consepultus, als Mitbegrabener empfunden habe. Eine Mystik, die die Erfahrung der Leere macht, muss nicht in den Atheismus abgleiten, sie kann als Nähe zu Christus gedeutet werden, der die Last der Leere wie kein anderer erfahren hat.

VI.

Der Karsamstag hat, auch daran erinnert Tilliette in seinem Essay, eine Szenenfolge. Die erste Station ist die Kreuzesabnahme. Das Corpus des toten Christus auf dem Schoß Mariens, der mater dolorosa, ist von vielen Künstlern dargestellt worden, am eindrücklichsten vielleicht vom jungen Michelangelo in seiner Pietà. Die compassio der trauernden Mutter mit dem in der Passion verstorbenen Sohn wird hin ins Bild gesetzt. Die zweite Station ist die Grablegung. Auch diese Szene hat in der Kunst vielfältige Resonanzen gefunden. In Basel hängt Hans Holbeins Bild Der tote Christus im Grabe. Mit anatomischer Präzision hat der Maler das Totsein des toten Erlösers festgehalten. Das Bild hat viele Betrachter verstört. Man kann vor diesem Bild den Glauben verlieren, wie Fürst Myschkin in Dostojewskis Roman Der Idiot ausruft. Man kann das Bild aber auch anderes deuten und hier den Zustand des toten Christus am Karsamstag kurz vor dem österlichen Umschlag ins Bild gesetzt sehen.

VII.

Hans Urs von Balthasar hat in seiner Theologie der drei Tage in der Solidarität des toten Christus mit den Verlassenen die Bedeutung des Karsamstags gesehen. Christus trete als Mitverlorener an die Seite der Verlorenen, er mache ihnen die selbst gewählte Einsamkeit streitig, das sei in den theodramatischen Interaktionen zwischen Gott und den Menschen der tiefste Grund dafür, für alle zu hoffen. Dem Einwand, hier werde der duale Ausgang des Gerichts geleugnet und die Bosheit der menschlichen Freiheit zu gering veranschlagt, hat Balthasar in seinen Schriften Was dürfen wir hoffen? und Kleiner Diskurs über die Hölle zu entkräften gesucht.

Das hat nicht alle Kritiker restlos überzeugt. Ohne zu einer Apologie für seinen Freund von Balthasar auszuholen, hält Xavier Tilliette den Gebildeten unter dessen Verächtern entgegen: "Hinsichtlich der ungerechten Polemik, die den Lebensabend von Balthasar so schmerzlich getrübt hat, möchte ich mich nur auf einen kurzen Hinweis beschränken: Es war ihm vergönnt, seinen Kritikern mit Weisheit und Gelassenheit zu antworten und zu erklären, dass er nicht von einer Erlassung der Strafen geträumt und schon gar nicht dem Sophismus von der leeren Hölle zugestimmt habe, laut welchem es zwar eine Hölle gibt, aber niemand sich darin befindet." Und später heißt es, dass Balthasar "die gepanzerten Pforten der Hölle mit dem Werkzeug der Hoffnung und dem Hebel der Liebe Christi aufbrach, die stärker als der Tod ist und weiter als die Hölle".

VIII.

Der erste Hinweis, dass Christus selbst im Denken und Dichten der Moderne verborgen gegenwärtig ist, und der zweite auf den Karsamstag, der hoffen lässt, dass auch die Verlorenen nicht verloren gehen, laufen bei Dostojewski zusammen, der wie wenige sonst ein Organ für die dämonischen Abgründe des Menschen hatte.

In Schuld und Sühne findet sich ein Gleichnis für den völlig unwahrscheinlichen Vorgang, dass sich ein Verschlossener aufbrechen lässt. Der hochtalentierte, aber völlig verarmte Raskolnikow, der eine Theorie des erlaubten Mordes entwickelt und kaltblütig eine geizige Pfandleiherin erschlägt, wird von Sonja geliebt. "Sie kannte seinen Ehrgeiz, seinen Hochmut, seine Eigenliebe und seinen Unglauben." Nach dem Mord bringt sie ihn dazu, sich der Polizei zu stellen. Zur Strafe für sein Verbrechen muss er Zwangsarbeit leisten, sie begleitet ihn ins Exil nach Sibirien. Lange reagiert Raskolnikow abweisend, ja ungehalten auf ihre Gegenwart. Er ist unfähig zur Selbstanklage und Reue, wirkt verstockt, bemerkt dann aber, dass seine Mithäftlinge die mitfühlende Sonja liebgewinnen. Nach einem Traum, in dem er den Untergang der Welt – auch seiner eigenen – erlebt, schmilzt das Eis seines Herzens. "Er weinte und umfasste ihre Knie", die unerschöpflichen Quellen der Liebe brechen in ihm auf.

Sieben Jahre müssen die beiden noch im Straflager ausharren. Aber es ist bereits der Beginn eines neuen Lebens.

 

Literatur

  • Xavier TILLIETTE, Philosophische Christologie. Eine Hinführung. Übersetzt von Jörg Disse, Johannes Verlag: Einsideln 1998.
  • DERS., Spekulativer Karsamstag, in: Magnus Striet – Jan-Heiner Tück (Hg.), Die Kunst Gottes verstehen. Hans Urs von Balthasars theologische Provokationen. Mit einem Geleitwort von Karl Lehmann, Freiburg i. Br. 2005, 220-227.

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