Lässt sich das ungelebte Leben nachholen?Zur Melancholie der Infanten-Bilder von Diego Velázquez

Das Kunsthistorische Museum in Wien bietet eine Fülle von großartigen Kunstwerken – die Infanten-Bilder von Velázquez erinnern daran, dass unser Leben unter dem Neigungswinkel der Sterblichkeit steht, und werfen die Frage auf, ob aus dem Fragment eines zu früh abgebrochenen Lebens ein Ganzes werden kann.

Velazquez: Infantin Margarita Teresa in blauem Kleid
Diego Velasquez: Infantin Margarita Teresa (1651-1673) in blauem Kleid© gemeinfrei/Kunsthistorisches Museum Wien

I.

Immer wieder gibt es Entdeckungen, wenn man durch die Säle des Kunsthistorischen Museums in Wien streift. Die Selbstportraits von Rembrandt, die Madonna im Grünen von Raffael, aber auch Jan Vermeers Die Malkunst sind Höhepunkte, die man nicht müde wird, sich anzusehen. Heute sind es die Infanten-Bilder von Diego Velázquez (1599-1660), die mich in ihren Bann ziehen. Der Hofmaler des Königs Philipp IV. von Spanien hatte die jungen Mitglieder der königlichen Familie in Porträts festzuhalten, die dann aus Gründen der Heiratspolitik nach Wien oder an andere Orte verschickt wurden. Die drei Porträts von Margarita Teresa (1651-1673), die die junge Infantin im Alter von drei, fünf und acht Jahren zeigen, gehören zu den kunstvollsten Bildern von Velázquez. Sie lassen Margerita erst in rosafarbenem, dann in weißem und schließlich in blauem Kleid posieren. Beim letzten Bild erreichen flimmernde Farbflecken auf flächigem Grund einen geradezu impressionistischen Effekt – kaum zufällig hat Eduard Manet Velázquez einmal den "Maler der Maler" genannt.

Noch mehr aber spricht mich das Porträt des Infanten Philipp Prospero an – ein Bild der menschlichen Schwäche und Hinfälligkeit, das in scharfem Gegensatz zur Bürde des Amtes steht, das ihm übertragen werden soll. Er war als Kronprinz sehnlichst erwartet worden, am 28. November 1657 geboren, aber schon am 1. November 1661 gestorben, keine vier Jahre alt! Der dunkle Hintergrund des Bldes, vor dem sich das blässliche Gesicht des jungen Philipp Prospero abhebt, bietet, so scheint es zumindest rückblickend, eine Vorahnung des frühen Todes. Auch handelt es sich um eines der letzten Bilder von Velázquez.

II.

In der linken Bildhälfte hat der Künstler sein geliebtes Hündchen auf einem Stuhl verewigt, mit großen Augen schaut es den Betrachter an, als würde es leben – wohl eine Anspielung auf den römischen Dichter Martial, der in seinen Epigrammen berichtet, der berühmte Maler Publius habe seine Hündin Issa in einem Bild unsterblich gemacht: "Der Tod sollte sie ihm nicht ganz nehmen, so malte er sie ähnlicher als sie selbst es war. Stellte man sie neben ihr Bild, so würde man meinen, beide seien gemalt oder man würden meinen, beide seien wirklich." Die Malkunst als Medium, ein geliebtes Mitgeschöpf der Sterblichkeit zu entreißen.

Diego Velázquez: Infant Philipp Prosper (1657-1661), Kunsthistorisches Museum Wien, gemeinfrei

III.

In der Tradition der höfischen Porträtmalerei gestaltet Velázquez den Rahmen mit Insignien der königlichen Hoheit. Philipp Prospero, der kränkliche Spross der spanischen Linie der Habsburger, steht auf einem kostbaren orientalischen Teppich, ruhig legt er seine Rechte auf die Lehne eines Stuhles, als könne ihn die Dramatik der Zeitläufte nicht aus der Fassung bringen, hinter ihm ein zurückgeschlagener schwerer Vorhang in Violett, eine offene Tür, die ins Weite führt, ohne dass man sehen würde, wohin …

Der junge Thronfolger ist standesgemäß in den Farben rot und weiß, aber nicht allzu pompös gekleidet. Er trägt ein Amulett gegen den bösen Blick, einen Apfel aus Bernstein, der ihn vor Krankheiten schützen soll, ein Glöckchen, das verrät, wo er sich in den weiten Hallen des spanischen Hofes gerade aufhält. So steht der kleine Prinz mit den Vorzeichen einer großen Zukunft auf der Bühne des Lebens, von der er schon bald heruntergefegt wird, ohne auch nur begonnen zu haben, die ihm zugedachte Rolle einzunehmen. Welche dynastischen Erwartungen waren in ihn gesetzt worden? Welche Rolle in der Geschichte hätte er spielen können? Eine tödliche Krankheit durchkreuzt alles und rafft ihn hinweg, als wäre er nichts als ein früh verwelktes Blatt, vom Winde verweht.

IV.

Das Ungelebte dieses Lebens – die Melancholie der unausgeschöpften Möglichkeiten, die sich nicht nachholen lassen. Oder doch? Es wäre ein kühner Gedanke, zu hoffen, dass der Schöpfer Möglichkeiten hätte, das Ungelebte des Lebens, die geradezu verschwenderisch vergeudeten Potentiale im Reich der Vollendung nachzuholen. Kühn deshalb, weil die Lehre vom Tod als dem Ende des menschlichen Pilgerstandes relativiert würde und es nach der Geschichte im Raum der Vollendung eine göttliche Fortsetzung der Geschichte gäbe, die aus dem Fragment gebliebenen Leben ein Ganzes machte. Der frühe Tod des Infanten aber – er macht uns stumm und nachdenklich.

V.

Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen:
Wie kann das sein, daß diese nahen Tage fort sind,
für immer fort, und ganz vergangen?
Und viel zu grauenhaft, als daß man klage,
daß alles gleitet und vorüberrinnt.

So heißt es in den Terzinen I. Über Vergänglichkeit, die ein ehemaliger Schüler des Akademischen Gymnasiums in Wien 1894 unter dem Eindruck der Nachricht des Todes einer Vertrauten – Josephine von Wertheimstein – geschrieben und unter dem Pseudonym Loris veröffentlicht hat: Hugo von Hofmannsthal (1874-1929). Mit wenigen Versen gelingt es dem jungen Dichter, die barocke Vanitas-Vorstellung von der Vergeblichkeit alles Irdischen ins Fin de Siècle zu übertragen:

Wir sind aus solchem Zeug wie das zu Träumen
Und Träume schlagen so die Augen auf
Wie kleine Kinder unter Kirschenbäumen …

Man kann hier eine Anspielung auf Shakespeares The Tempest mitlesen, wo Prospero die Worte spricht: We are such stuff / As dreams are made on… Nicht minder bedenkenswert ist, dass auch hinter diesen Versen die Geschichte eines viel zu früh verstorbenen Kindes steht. Der 19-jährige Hofmannsthal wurde im Juli 1893 brieflich von einer Freundin über den Tod der kleinen Addah unterrichtet: "Am 5. des Monats starb sie, (…) drei Tage früher noch besuchte sie Nelly bei den Leuten, wo sie wohnte, sie saß feiertäglich gekleidet im kleinen Gemüsegarten auf einer Bank unter einem kleinen, reichbeladenen Kirschbaum, (…) soll unsagbar schön ausgesehen haben. Nelly wünschte sich einen wirklichen, großen Künstler herbei, um diesen Eindruck festzuhalten." Hofmannsthal hält für sich fest: "Der Tod der kleinen Addah in Marie's Brief: frierend, mit verklärten fiebernden Augen im weissen Firmungskleid unter dem früchtebeladenen Kirschenbaum." Und er setzt hinzu: "So müsste man die Heiligen malen."

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