I.
Aus dem Testament eines Patienten, der dreimal im Koma lag und über den Auferstandenen sagt: "Es gibt ihn wirklich. Ich bin ihm begegnet. Er wartet auf uns." –
Aber wir – warten wir noch auf ihn?
II.
Das Verstummen des Maranatha in der Kirche. Die Sehnsuchtspfeile bleiben im Köcher. Die Spannkraft des Bogens erlahmt. Stattdessen Absicherung der kirchlichen Institution, Optimierung der Strukturen – der Gottesdurst aber bleibt ungestillt, die Seelen leer. Wohin ist die Frage "Wohin"?
III.
Der Ruf "Maranatha – Komm, Herr Jesu", der bei den frühen Christen täglich gebetet wurde (1 Kor 16,22), wird durch messianische Juden wiederaufgenommen. Sie entfachen neu die Glut der Erwartung unter der Asche der Jahrhunderte und nehmen die Spur wieder auf, die durch das letzte Wort des Neuen Testaments gelegt wird: "Amen. Komm, Herr Jesu" (Offb 22,20).
IV.
Der Messias, den sie erwarten, ist nicht abstrakt, sondern der Jude Jeshua, der am achten Tag beschnitten wurde und nach den Weisungen der Tora gelebt hat. Er ist zunächst der Messias des Hauses Israels und dann auch der Völker. Der Schrift nach wird er vom Berg Zion her wiederkommen. So tragen die messianischen Juden in die Erwartung ein von Christen verdrängtes israeltheologisches Moment ein. Doch damit nicht genug. Auch geben sie den Anstoß zu einer Ökumene der Erwartung und setzen auf eine Konvergenz der Verheißungen: Warum soll der Christus, dessen Parusie Christen erhoffen, nicht der Messias Israels sein, um dessen Kommen fromme Juden täglich dreimal im Achtzehnbittengebet, dem Schmone Esre, beten?
V.
"Wer außer Fundamentalisten erwartet heute das tatsächliche Kommen des Messias?" (George Steiner). Liberale Stimmen im Judentum haben uns daher aufgeklärt, die Juden würden gar keinen Messias erwarten. "Der Messias kommt nicht" – so der reißerische Titel, mit dem die erwartungsmüde Leserschaft herbeigelockt werden soll. Die Geschichte des Judentums kennt zweifellos eine ganze Galerie gescheiterter Messias-Prätendenten, auch gibt es Messianismen ohne Messias oder politische Transformationen im utopischen Denken und im Marxismus. Aber kann aus der historischen Ernüchterung der Abschied von der Messiaserwartung überhaupt gefolgert werden, die in den biblischen Schriften und der jüdischen Tradition doch vielstimmig bezeugt ist? Fraglich ist, ob orthodoxe Juden diese Amputation ihrer Religion unterschreiben und sich mit einem Judentum ohne messianische Erwartung identifizieren würden …
VI.
Die Erwartung steht unter Vorbehalt. Gott allein kennt den Zeitplan. Niemand sonst. Aber ein bestimmter Umgang mit den heiligen Schriften neigt dazu, diesen Vorbehalt zu überspringen. Man meint zu wissen, bald wird es geschehen, sehr bald! Man kennt die Vorzeichen, die sich verdichten: Verbreitung des Evangeliums in allen Ländern, massenhafter Abfall vom Glauben, dann Erdbeben, Pandemien, Krankheiten, Pseudo-Messiasse. Die roadmap der Ereignisse der Endzeit – man glaubt sie zu kennen!
VII.
Dagegen der Einspruch Karl Rahners: Eschatologie ist "keine vorwegnehmende Reportage" dessen, was kommt. Die Anmaßung des Gottes-Standpunktes ist schlechte Theologie. Aber umgekehrt: Was hat Gottesrede, die sich spätestens seit Auschwitz und Hiroshima ein Moratorium in Sachen Geschichtstheologie auferlegt, über die Fortsetzung der Heilsgeschichte zu sagen? Ist sie nicht völlig verstummt? Hätte sie der postmodernen These vom Ende der großen Erzählungen nicht ein heilsgeschichtliches Narrativ entgegenzusetzen, das den dramatischen Bogen der menschlichen Freiheitsgeschichte nicht in den Untergang, sondern auf Gottes richtende und rettende Vollendung zulaufen lässt?
VIII.
Die Weltgeschichte – mit den Augen eines Ungläubigen betrachtet – das Tagebuch eines Wahnsinnigen? Was wäre sie aus der Optik christlicher Geschichtstheologie? Dass Anfang und Ende, Schöpfung und Vollendung in den Händen Gottes liegen, bildet den Rahmen, der mit dem finalen Gericht einen Fluchtpunkt der Hoffnung bietet – wie aber das Bild oder zumindest eine Skizze der Geschichtstheologie dazwischen auszufüllen wäre, bleibt schwierig zu sagen. Der Glaube an die Vorsehung hat Risse bekommen und ist weithin einem heimlichen Deismus gewichen. Allenfalls im Rückspiegel glaubt man hier und da Spuren des göttlichen Wirkens ausmachen zu können. Und selbst die bleiben seltsam unscharf und strittig.
IX.
Die produktive Irritation der messianischen Juden und evangelikalen Christen: Sie reden mit der Erwartung der Parusie Christi und der Aufrichtung des 1000-jährigen Friedensreiches gegen das geschichtstheologische Verstummen an. Sie setzen einen Kontrapunkt gegen resignative und dystopische Stimmungslagen, die in Bewegungen wie last generation oder birth strike manifest werden. Dabei zitieren sie Schriftstellen, die ihre Erwartung zu bestätigen scheinen. Die Auseinandersetzung mit ihrer Theologie, die provozierend konkret von Parusie und Chiliasmus spricht, wird auf eine neue Debatte über Schrifthermeneutik hinauslaufen. Die Fragen der Alten Kirche kehren wieder.
X.
"Vom Zuviel war die Rede, vom / Zuwenig", heißt es im Gedicht Zürich, Zum Storchen von Paul Celan. Es gibt zwei usurpatorische Gestalten von Messias-Theologie oder Parusie-Christologie, die verfehlt sind: Die eine weiß zu viel, wenn sie meint, Zeit, Ort, Bedingungen und Umstände des Kommens ganz genau angeben zu können. Die andere weiß zu wenig, wenn sie zu wissen glaubt, dass der Messias nie und nimmer kommen wird. Als sei es gewiss, dass die biblischen Verheißungen im Nichts verhallen würden. Der Punkt hinter dem Satz "Der Messias kommt nicht." wäre daher mit einem Fragezeichen zu versehen, um den Handlungsspielraum Gottes nicht eigenmächtig zu beschneiden und der Erwartung auf das mögliche Kommen des Retters nicht die letzte Luft zum Atmen zu nehmen. "Wir wachen in der Nacht auf und warten auf die Rückkehr unserer Kinder. Aber warten wir auch auf die Rückkehr Christi?" (Erik Peterson)
XI.
"Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erlöst, vollendet, schafft." Bei Walter Benjamin betritt der Messias als Subjekt die Bühne des Textes, er handelt im Indikativ – und sein Handeln hat performative Kraft, es vollendet die Geschichte. Bei Theodor W. Adorno findet sich am Ende der Minima moralia ein Echo darauf: Der Messias wird aufs Messianische zurückgenommen, der klare Indikativ weicht dem Konjunktiv, der zwischen möglich und unmöglich oszilliert: "Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung sich darstellten … Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird."
XII.
Martin Buber im Gespräch mit christlichen Theologen: "Wir warten alle auf den Messias. Sie glauben, er ist bereits gekommen, ist wieder gegangen und wird einst wiederkommen. Ich glaube, dass er bisher noch nicht gekommen ist, aber dass er irgendwann kommen wird. Deshalb mache ich Ihnen einen Vorschlag: Lassen Sie uns gemeinsam warten." Und um jede Form von triumphalistischer Rechthaberei auszuschließen, fügt Buber bei: "Wenn er dann kommen wird, fragen wir ihn einfach: Warst du schon einmal hier? Und dann hoffe ich, ganz nahe bei ihm zu stehen, um ihm ins Ohr zu flüstern: 'Antworte nicht'."