Keine Bevorzugung, keine BenachteiligungDie Benediktsregel und Artikel 3 des deutschen Grundgesetzes

Was eine christliche Ordensregel aus der Völkerwanderungszeit mit der deutschen Verfassung verbindet.

Das Grundgesetz
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"Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Das ist der Wortlaut des Artikels 3 Absatz 3 des deutschen Grundgesetzes. Diese Errungenschaft verdanken wir nicht zuletzt den Lehren aus einer leidvollen Geschichte, die davon geprägt war, dass Menschen in Deutschland unsagbar schwere Schuld auf sich geladen haben. Doch jetzt, gerade drei Generationen später, gewinnen gesellschaftliche Kräfte und politische Strömungen sichtbar an Stärke, die mit ihren Ansichten das, was Artikel 3 besagt, massiv anfechten. Dieses Phänomen lässt sich nicht nur in Deutschland, sondern in vielen anderen europäischen Ländern beobachten.

Vor 50 Jahren, 1964, erhob Papst Paul VI. den hl. Benedikt zum Patron Europas. Was hat Benedikt mit Artikel 3 des Grundgesetzes zu tun? Als im 6. Jahrhundert die Benediktsregel entstand, war schon seit zwei Jahrhunderten eine große Migrationsbewegung im Gange, die sogenannte Völkerwanderung. Sie brachte enorme politische, soziale und kulturelle Umbrüche, Abbrüche und Zerwürfnisse mit sich. Im Kloster, so bezeugt es die Benediktsregel, kommen Menschen aus völlig gegensätzlichen gesellschaftlichen Milieus zusammen. Neben solchen, die über Bildung beziehungsweise eine Berufsausbildung verfügen (vgl. RB 57,1), gibt es solche, die "nicht fähig sind, etwas zu lernen oder zu lesen" (RB 48,23); neben physisch und psychisch belastbaren gibt es auch jene, die Benedikt als "empfindlich" (delicati) bezeichnet (RB 48,24).

Eine Revolution des Menschenbildes

Aus der gegen Ende des 6. Jahrhunderts von Gregor dem Großen verfassten Lebensbeschreibung Benedikts wissen wir, dass zur Klostergemeinschaft nicht nur Menschen aus wohlhabenden römischen Familien gehörten, sondern auch Menschen mit Migrationshintergrund (vgl. dial. II 6,1). Die aus heutiger Sicht vielleicht schwerwiegendste Ungleichheit war aber wohl die zwischen Freien und Sklaven. "Ohne einen vernünftigen Grund", so mahnt Benedikt den Abt des Klosters, dürfe dieser "den Freigeborenen nicht dem, der als Sklave eintritt, vorziehen" (RB 2,18). Offensichtlich war das, was im gesellschaftlichen Umgang das Übliche war, im Kloster nicht schon automatisch anders. Der Abt muss daran erinnert werden, wie der christliche Glaube das pagan-römische Menschenbild revolutioniert: keine Bevorzugung aufgrund der sozialen Herkunft und rechtlichen Stellung, der kulturellen Prägung, der physischen, intellektuellen oder psychischen Konstitution!

Benedikt argumentiert an dieser Stelle mit der Heiligen Schrift und zitiert aus den Briefen des Apostels Paulus: "Denn ob Sklave (servus) oder Freier, in Christus sind wir alle eins ( vgl. Gal 3,28), und unter dem einen Herrn tragen wir die Last des gleichen Dienstes (servitus). Denn bei Gott gibt es kein Ansehen der Person (vgl. Röm 2,11)" (RB 2,20).

Die Wurzel und Begründung des Gedankens von der Gleichheit aller Menschen liegt also in ihrem Verhältnis zu Gott: Es ist "der gleiche Dienst". Der lateinische Text zeigt hier deutlicher als die deutsche Übersetzung, dass das Neue am christlichen Menschenbild darin besteht, dass alle – unabhängig von ihrer Herkunft und ihren persönlichen Voraussetzungen – "Sklaven" (servus/servitus) Gottes sind. In dem Sinne, in dem der Apostel Paulus das Wort "Sklave" benutzt, um das Verhältnis der Menschen zu Gott zu beschreiben, hat der Begriff nichts mit Verachtung, Knechtung, Abwertung und ähnlichem zu tun, sondern er benennt ein Besitzverhältnis. Kennzeichen des Sklaven ist, dass er nicht sich selbst gehört, sondern jemand anderem. Paulus nennt sich selbst "Sklave Jesu Christi" (Röm 1,1).

Die christliche Freiheit ist eine Freiheit, die Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen zulassen und respektieren kann, weil diese Unterschiede den Wert und die Würde des einzelnen nicht berühren, weder steigern noch beeinträchtigen.

Bereits im Alten Testament wird das auserwählte Volk Israel als "Gottes besonderes Eigentum" (Ex 19,5) bezeichnet. Es gehört Gott und damit nicht irgendeiner anderen Macht, sei sie politisch, wirtschaftlich oder ideologisch. Vom biblisch-christlichen Menschenbild her ist der Mensch dann wirklich frei, wenn er ganz Gott gehört. Das klingt angesichts eines modernen, autonomen Freiheitsverständnisses befremdlich. Aber die christliche Freiheit ist eine Freiheit, die Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen zulassen und respektieren kann, weil diese Unterschiede den Wert und die Würde des einzelnen nicht berühren, weder steigern noch beeinträchtigen.

Jeder Mensch gehört Gott, seinem Schöpfer und Erlöser, und darin ist seine Einzigartigkeit, Unersetzlichkeit und Würde begründet. Dieses biblisch-christliche Menschenbild stark zu machen, es im alltäglichen Umgang mit den Mitmenschen im je eigenen Lebenszusammenhang zu verwirklichen, ist unsere große Chance als Christen, wahrhaft verändernd in den Lauf der Geschichte einzugreifen.

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