"Der einzige Mensch, der sich vernünftig benimmt, ist mein Schneider. Er nimmt jedes Mal neu Maß, wenn er mich trifft, während alle anderen immer die alten Maßstäbe anlegen in der Meinung, sie passten auch heute noch", soll George Bernard Shaw einmal mit trockenem irischem Humor bemerkt haben.
Auch die Benediktsregel legt Wert darauf, dass Mönchen und Nonnen die Kleider passen, die sie tragen. Die Oberen sollen für das rechte Maß sorgen (RB 55,8).
Mensura, mensurate (Maß, maßvoll) sind benediktinische Schlüsselworte. In Anbetracht der unterschiedlichen Bedürfnisse der Einzelnen bestimmt die Benediktsregel nur sehr vorsichtig das allgemeine Maß an Speise und Trank (RB 39T; 40T.2). Vor allem sollen Unmäßigkeit und destruktives Murren in der Gemeinschaft vermieden werden (RB 40,8). Vieles ist dem Ermessen der Oberen anheimgestellt, ihrem klugen Augenmaß, ihrer geistlichen Unterscheidungsgabe beim Maßnehmen am konkreten Sachverhalt (RB 11,2; 24,1; 25,5; 30,1; 48,9; 49,5; 68,2; 70,5). Auch der Cellerar (Klosterökonom) soll in seiner komplexen Verantwortung für Menschen und materielle Güter alles maßvoll tun und dabei zugleich auf sein inneres Gleichgewicht, das Gleichmaß seiner Seele achten (RB 31,8.12.17).
Das "vermessene Leben"
"Man hat kein Maß mehr, für nichts, weil das Menschenleben nicht mehr Maß ist", notierte der Aphoristiker Elias Canetti einmal. Interessant ist, dass aktuelle soziologische und psychologische Studien auf ein in der heutigen Gesellschaft allgegenwärtiges Messen, Zählen und Vergleichen hinweisen, auf ein durch die Unterhaltungs- und Werbeindustrie gefördertes Maßlosigkeitssystem, das schließlich zu einem rundum "vermessenen Leben" führe. Maßgeschneiderte Manipulation versuche, Menschen nach messbaren Parametern vergleichbar zu machen. Das Exaktheitsversprechen, das Zahlen anhafte, verschiebe Normalitätsvorstellungen und Auffassungen darüber, wie menschliches Leben zu sein habe, wo seine Möglichkeiten und Grenzen liegen. Anmaßung und maßlose Überschätzung seien oft prekäre Folgen.
Der antike Leitsatz ne quid nimis (nichts im Übermaß), den die Benediktsregel klösterlichen Oberen als Entscheidungs- und Handlungsmaxime vorlegt (RB 64,12), hat es nicht auf ein farbloses Mittelmaß im menschlichen Leben abgesehen. Er fordert die Beachtung von Grenzen, steht aber zugleich im Gegensatz zu Trivialisierungen, d.h. zur Aufhebung jeglicher Distanz, zur reflexartigen Anpassung an Gewohnt-Gewöhnliches, wodurch alles immer gleich auf ein rein menschliches Maß zurechtgestutzt wird.
Die Urwünsche des nach dem Bild Gottes geschaffenen Menschen sind in ihrer Ausrichtung auf den Schöpfer maßlos. Sie übersteigen Zeit und Raum.
Der litauisch-französische Philosoph Emmanuel Levinas unterschied zwischen besoin (menschlichen Bedürfnissen, die der Lebenserhaltung dienen und deren Maß dem Wesen des Menschen entspricht) und désir (der Sehnsucht, die das menschliche Maß übersteigt und auf Gott gerichtet ist). Die Urwünsche des nach dem Bild Gottes geschaffenen Menschen sind in ihrer Ausrichtung auf den Schöpfer maßlos. Sie übersteigen Zeit und Raum. Das Wagnis des Glaubens, dem sich auch heutige Benediktinerinnen und Benediktiner immer wieder stellen, besteht nicht zuletzt im Verrücken der Maßstäbe dieser Welt, im Widerstand auch gegen ein Sich-Einrichten innerhalb der verkleinerten Standards menschlicher Bedürfniswelt. Das Maßlose, das benediktinische Gottsucher drängt, ist im Mäßigen nicht zu finden!
Die Benediktsregel nimmt das menschliche Maß und die Bedürfnisse der Einzelnen ernst, bleibt dabei jedoch nicht stehen. Sie lockt die Brüder und Schwestern auch in unseren Tagen, in Freude ganz ihrer geistlichen Sehnsucht zu folgen (RB 4,46; 49,7) und es dabei auch zu wagen, über ihr eigenes Maß hinauszugehen. Es sind vor allem Gebet, Meditation, die Erfahrung der Liebe Gottes und der wache Blick für die Nöte unserer Zeit, die Mönche und Nonnen ihr eigenes Maß verlieren lassen – um letztlich mit Gottes (Über-)Maß beschenkt zu werden.