Apropos FrauentagEine benediktinische Kirchenlehrerin

Hildegard von Bingen hat viele Briefe an Äbtissinnen geschrieben, also an Frauen in Führungspositionen. Sie empfanden ihr Amt oft als Überforderung. Hildegard hatte zwei Ratschläge für sie.

Maura Zátonyi
© Jan Bruns

Im sozialistischen Ungarn aufgewachsen, kann ich mich erinnern, dass die gläubigen Christen, die unter dem atheistischen Regime Repressalien zu erleiden hatten, Jahr für Jahr dem vom selben Regime propagierten Frauentag am 8. März ironisch distanziert gegenüberstanden. Nicht wenig überrascht war ich persönlich, als kirchliche Medien vor einigen Jahren begannen, mich anlässlich des Frauentages zu Interviews einzuladen. Man ist an Hildegard von Bingen interessiert, und zwar aus dem Grund, weil ihr als einer der vier Kirchenlehrerinnen eine besondere Stellung in der Kirche zukommt.

Die heilige Hildegard wurde und wird allzu oft zu einer Vorkämpferin für die Gleichberechtigung der Frauen stilisiert, die sich in einer von Männern dominierten Welt bzw. Kirche durchgesetzt habe. Solche Deutungen sind jedoch eher das Ergebnis zeitgenössischer Projektionen als einer gründlichen Lektüre ihrer Werke.

Freilich, in den Korrespondenzen Hildegards finden sich Briefpartner mit hohem kirchlichem Rang. Hildegard stand nachweislich mit Päpsten, Erzbischöfen und Bischöfen und auch mit dem Kaiser in Briefkontakt. In einer bedeutenden hildegardischen Briefsammlung, die in einem wichtigen Kodex überliefert ist und in der Forschung als die autorisierte Fassung ihrer Korrespondenzen angesehen wird, bleiben diese Briefe jedoch zahlenmäßig weit hinter jenen Briefen, die Hildegard mit Äbtissinnen gewechselt hat, zurück. Diese Frauen, die in (kirchlichen) Führungspositionen stehen, bilden den zweitgrößten Adressatenkreis in dieser prominenten Briefsammlung. Nur noch die Korrespondenzen mit Äbten übertreffen deren Zahl. Die Äbtissinnen sind Personen, denen in der Ausübung ihrer Pflichten den ihnen Anvertrauten gegenüber durch die Benediktsregel klare Anforderungen auferlegt sind.

Hilfreiche Haltungen in herausfordernden Situationen

In ihren Briefen an Hildegard thematisieren die Äbtissinnen mehrfach die Last der Führungsaufgaben, die sie nicht selten als Überforderung empfinden. Daher stellen sie sich immer wieder die Frage, ob sie überhaupt im Amt bleiben sollen, und bringen ihre Sehnsucht nach Zurückgezogenheit, Einsamkeit und einem beschaulichen Leben zum Ausdruck. Übrigens, mit diesem Problem sind nicht nur Frauen konfrontiert, auch Äbte beschäftigen sich mit ähnlichen Fragen. Hildegards Antwort ist klar: Sie mahnt ihre Adressaten, ihre Aufgaben nicht aufzugeben. Zur Bewältigung der belastenden Lebenssituation legt sie ihnen zwei weise und heutzutage viel zu oft übersehene Haltungen ans Herz: stabilitas, Beständigkeit, und discretio, weises Maßhalten.

Was Hildegard diesen Frauen auf ihren Lebensweg als Rat mitgibt, zeigt sich als eine Wegweisung, die auch in anderen herausfordernden Situationen, also nicht nur für Frauen und nicht nur für Führungspersönlichkeiten, befreiend wirkt. Stabilitas bedeutet nämlich eine dynamische Lebenseinstellung auf der Grundlage einer Verwurzelung: Um von Schwierigkeiten nicht wegzulaufen, sondern an dem Ort, an dem man zu stehen bestimmt ist, ausharren zu können, braucht der Mensch Empfangsbereitschaft und Wandlungsfähigkeit, die Boden unter den Füßen hat. Die stabilitas, das Dabei-Bleiben, kann nur gelingen, wenn man die Realität annimmt, sie aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und sich damit auseinandersetzt. Dabei hilft die discretio als kluge Unterscheidungskraft und geistbewirkte Orientierungshilfe, zu erkennen, was loszulassen und woran mit Entschiedenheit festzuhalten gilt.

Und wie heißt es im Originalton von Hildegard? In ihrem Brief an die Äbtissin Hazecha schreibt sie: „Du hast Augen zum Sehen und zum umsichtigen Überblick. Wo du Schmutz siehst, wasche ihn ab, und was dürr ist, lasse grünen ... Achte also darauf, deine Last in rechter Weise zu tragen, und sammle das gute Werk im Beutel deines Herzens!“

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