Ich bin fassungslos – seit Jahren. Was ist da los, dass bei fast allen neueren Gemeinschaften die Gründer sexuellen und/oder geistlichen Missbrauch begangen haben? Gemeinschaft der Seligpreisungen, Johannes-Gemeinschaft, Familie Mariens, Arche, Jerusalem-Gemeinschaft, Schönstatt. Vor kurzem tauchten Dokumente auf, die belegen, dass bereits Papst Pius XII. den Gründer der Legionäre Christi sanktionieren wollte. Der Tod des Nachfolgers Petri schuf leider Raum für teils naive, teils intrigante Vertuschung. Erst Papst Benedikt XVI. suspendierte den Missbrauchstäter.
Es ist üblich geworden, die Ursache für Missbrauch in klerikalen Strukturen zu verorten. Gegenüber diesem pauschalen Erklärungsansatz sind Zweifel angebracht. Toxisches Leitungsverhalten existiert nicht nur in der Kirche. Viele der genannten Gemeinschaften wurden nach der 68er-Revolution gegründet. Oft haben sie ihren Ursprung in der charismatischen Bewegung, die mit geringer Institutionalisierung auskommen will.
Was kann dazu führen, dass in einer solchen Häufung psychisch und geistlich unreife Menschen zu Gründungsfiguren wurden? Eine mögliche Antwort fand ich beim Mönchsvater Johannes Cassian (360-435), und zwar in den Weisungen zum Laster des Stolzes im 12. Buch seiner "Institutiones". Was die Mönchsväter als Hochmut diagnostizierten, subsumieren wir heute oft unter dem Stichwort Narzissmus. Über Pierre-Marie Delfieux, den Gründer der Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem, kam ein Untersuchungsbericht zum Schluss, er sei "eine von Widersprüchen und Ambivalenzen geprägte Persönlichkeit, in der der Narzissmus überwiegt".
Menschen mit verfestigtem Hochmut sind nicht mehr bereit, sich Regeln zu fügen. Ihr elitäres Bewusstsein lässt sie bestehende Klöster für dekadent halten. Schon zu Zeiten Cassians gründen solche Leute oft selber eine neue Gemeinschaft und werden dort zum kritiklos verehrten Gründer.
Cassian beschreibt ein Phänomen in monastischen Kreisen seiner Zeit, das uns sehr modern anmutet (vgl. Institut. XII, 30). Menschen mit verfestigtem Hochmut sind nicht mehr bereit, sich Regeln zu fügen. Sie streben nach völliger Autonomie. Ihr elitäres Bewusstsein lässt sie bestehende Klöster für dekadent halten. Dort könnten sie nicht eintreten oder von dort müssen sie austreten, um nach Vollkommenheit zu streben. Schon zu Zeiten Cassians gründen solche Leute oft selber eine neue Gemeinschaft und werden dort zum kritiklos verehrten Gründer. Sie scharen Leute um sich, "um sie zu belehren und zu unterweisen". Damit ist bei narzisstischen Persönlichkeitsstrukturen Tür und Tor geöffnet für geistlichen Missbrauch. So wird "aus einem unbrauchbaren Schüler ein viel verderblicherer Lehrer".
Gegenmittel
Welche Präventionsmaßnahmen empfiehlt der heilige Benedikt für solche Fälle? Erstens ist es gefährlich, wenn jemand "in der ersten Begeisterung für das Mönchsleben" (RB 1,3), heute oft nach einem Bekehrungserlebnis, sich sogleich zum Starez erwählt glaubt. Zum wahren geistlichen Meister wird einer "durch Bewährung im klösterlichen Alltag". Auch in Benediktinerklöstern kann es vorkommen, dass die Mönche und Nonnen narzisstische Persönlichkeiten zu Vorstehern wählen. Deren manipulative Begabung verhilft ihnen zum Karrieresprung. Die Wähler tun gut daran zu prüfen: Wie leben die Kandidaten Gehorsam und Demut? Findet jemand ständig eine Ausrede, um alltägliche Regeln und Anweisungen der Oberen nicht einzuhalten? Gehorcht einer nur um der schönen Fassade willen? Weiss jemand immer alles besser?
Zweitens beugt Benedikt der infantilen Abhängigkeit von einem Guru vor, indem Gemeinschaft und Vorsteher einer personenunabhängigen Struktur unterworfen sind. Benediktiner "dienen unter Regel und Abt" (RB 1,2). Auch der Abt soll "in allem der Regel als Lehrmeisterin folgen" (RB 3,7).