Die Gesänge der Liturgie sind erfüllt von Staunen über das Weihnachtsmysterium und können nicht aufhören, das Wunder zu preisen: "O großes Geheimnis und wunderbares Heiligtum, dass Tiere den geborenen Herrn sahen, in der Krippe liegend. Selig die Jungfrau, deren Leib würdig war, Christus den Herrn zu tragen. Halleluja." Das Undenkbare und Unvorstellbare ist geschehen: Eine junge Frau hat in ihrem Schoß den Herrn getragen, den das ganze Universum nicht zu fassen vermag, und der allmächtige Gott offenbart sich in einem neugeborenen Kind. Was die Liturgie mit anbetender Hingabe feiert, das versuchen Theologen seit je mit der Hingabe des menschlichen Geistes zu ergründen und zu erschließen: das unfassbare Geheimnis der Menschwerdung Gottes.
Warum wurde Gott Mensch?
Die Frage, warum Gott Mensch geworden ist, durchzieht die gesamte Theologiegeschichte. Aus heilsgeschichtlicher Perspektive lautet die Antwort gemäß dem Großen Glaubensbekenntnis: "Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden." Demgemäß wird vorausgesetzt, dass der Mensch des Heils bedarf, nachdem er durch die Übertretung des Gebotes im Paradies gegen Gott gesündigt hat. Die Inkarnation ist in diesem Sinne die Reaktion Gottes auf den Sündenfall: Nachdem sich der Mensch von Gott abgewandt hat, kommt Gott selbst zu Hilfe, um den Menschen von Sünde und Tod zu erlösen: Gott wird Mensch!
Parallel zu dieser heilsgeschichtlichen Antwort, die davon ausgeht, dass sich Gott nach dem Sündenfall entschlossen hat, Mensch zu werden, stellen manche Theologen die Frage, ob Gott auch ohne den Sündenfall Mensch geworden wäre. Der heilige Thomas von Aquin kennt die diesbezüglichen unterschiedlichen theologischen Optionen und ordnet sie in seinem im 13. Jahrhundert verfassten theologischen Meisterwerk, Summa Theologiae, folgendermaßen ein (III.qu.1.a.3): Er verweist darauf, dass Gottes Wille für uns durch die Offenbarung in der Heiligen Schrift erkennbar ist. Da die Heilige Schrift über die Menschwerdung Gottes überall im Zusammenhang mit der Sünde des ersten Menschen spricht, folgt daraus, so Thomas, dass mit größerer Angemessenheit ("convenientius") behauptet werden kann, dass Gott ohne den Sündenfall nicht Mensch geworden wäre. Der heilige Thomas öffnet jedoch den Blick auf die Unfassbarkeit Gottes und gibt zu, dass Gottes Macht nicht begrenzt werden kann. Deshalb ist es auch möglich anzunehmen, dass Gott auch dann Mensch geworden wäre, wenn der Mensch nicht gesündigt hätte.
Hildegard von Bingen vertritt die Überzeugung, dass Gottes Entschluss, Mensch zu werden, schon von Ewigkeit her besteht.
Manche Theologen haben tatsächlich gewagt, Spekulationen über einen ewigen Plan der Inkarnation zu entwickeln. Zu ihnen gehört die Kirchenlehrerin Hildegard von Bingen (1089–1179). In ihrem "Prophetischen Vermächtnis" verknüpft sie die Inkarnation mit der Erschaffung der Welt und vertritt damit die Überzeugung, dass Gottes Entschluss, Mensch zu werden, schon von Ewigkeit her besteht, ohne den Sündenfall des Menschen: "Gott hat die Gestalt des Menschen vor allen Zeiten vorhergesehen, um in ihr Fleisch anzunehmen". Die heilige Hildegard gibt zu verstehen, dass das Bild und Gleichnis, nach dem der Mensch erschaffen ist, der Gottessohn, die zweite trinitarische Person ist. Gott wollte schon von Ewigkeit an Mensch werden. Mit unendlicher Liebe nimmt Gott den Menschen an, indem er sein eigenes Bild, das Bild des Sohnes, erkennt und liebt. Diese Gedanken über eine ewige Vorherbestimmung der Inkarnation sind als ein Versuch zu verstehen, die unbedingte Liebe Gottes zu uns Menschen erahnen zu lassen.
Die ewige Vorherbestimmung der Inkarnation steht im Zeichen der Liebe Gottes zu seiner Schöpfung, insbesondere zum Menschen: "Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt …" (Jer 31,3) – so spricht Gott, und er tut es! Es ist eine so große, unendliche und ewige Liebe, die Gott zu uns hat, dass selbst die Sünde ihn an seinem Ratschluss nicht hindern konnte, Mensch zu werden. Er zeigt sogar umso mehr seine Liebe, dass er nicht nur den "schönen" Menschen annimmt, als den er den Menschen in seinem Sohn von Ewigkeit her erblickt hat, sondern auch den sündigen, gefallenen Menschen. Diese ewige Liebe Gottes mit Hingabe zu betrachten, anzubeten und in unserem Leben anzunehmen, dazu lädt uns Weihnachten ein.