Jeden Tag ziehe ich zwei alte mechanische Pendeluhren auf, die nicht weit auseinander an Wänden unseres Klosters hängen. Bei der einen weiß ich, dass ich sie zugleich immer auch etwas vorstellen muss, die andere läuft ein wenig zu schnell; diese muss ich nachstellen. Zeitliche Orientierung schenkt mir für beide Uhren der Blick auf meine Armbanduhr. Was aber taten jene Menschen, die vor uns diese Wanduhren besaßen und die noch keine Referenzzeit zum richtigen Einstellen einer Uhr hatten? Wohl dürften sie die Zeit relativer als ich heute empfunden haben. Es war normal, dass nicht alle Uhren exakt gleich liefen. Auch ich habe mich schon daran gewöhnt, dass der Stundenschlag dieser beiden Uhren nicht gleichzeitig ertönt.
In unserer westlichen Gesellschaft gilt allerdings der exakte Stundenschlag. Wir messen die Zeit – und die Zeit misst uns. Wir lassen uns von der Zeit stressen und haben das Gefühl, sie zerrinne uns zwischen den Fingern. Wir wissen im Letzten, dass unsere Zeit läuft und uns jede Sekunde dem Tod näher bringt. Leben wir dabei nicht so, als hätten wir die Zeit im Griff? Als stünde sie unendlich zur Verfügung?
Gefüllter Augenblick
Auch für die Benediktsregel läuft die Zeit. Mit diesem Gedanken will uns der heilige Benedikt (+ 547) allerdings nicht stressen. Vielmehr fordert er uns auf, unsere Lebenszeit gut zu nützen, wenn er sagt: "Noch ist Zeit, noch sind wir in diesem Leib, noch lässt das Licht des Lebens uns Zeit, all das zu erfüllen. Jetzt müssen wir laufen und tun, was uns für die Ewigkeit nützt" (RB Prol 43f.). Für die Benediktsregel ist die Zeit eine Gelegenheit, sich für deren Vollendung vorzubereiten. Unsere Lebenszeit ist darum relativ: Sie bezieht sich auf eine größere Zeit, die Regel nennt sie "Ewigkeit".
In seinem Gedicht "Vermächtnis" kommt Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) ebenfalls auf die Ewigkeit zu sprechen, wo er schreibt:
"Genieße mäßig Füll und Segen,
Vernunft sei überall zugegen,
Wo Leben sich des Lebens freut.
Dann ist Vergangenheit beständig,
Das Künftige voraus lebendig,
Der Augenblick ist Ewigkeit."
Lese ich diese Zeilen richtig, ist für Goethe die wichtigste Zeit im Leben die Gegenwart, oder besser gesagt immer gerade jene Zeit, in welcher der Mensch das Leben mit Vernunft genießen und sich darüber freuen kann. Für Goethe war die Ewigkeit nichts, was nach dem Tode kommt, sondern jene Zeit, die aus der Vergangenheit lebt und offen für die Zukunft ist: ein gefüllter Augenblick.
Erfüllte Zeit
Schon das biblische Buch Kohelet sagt von der Ewigkeit: Gott hat die Ewigkeit in unser Herz gelegt (vgl. Koh 3,11). Auch dieser Prediger kennt also den Wunsch nach Ewigkeit in der Zeit. Welche Zeit hat Jesus Christus in unsere Herzen gelegt? Die erste Predigt Jesu, die uns überliefert ist, lautet: "Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe" (Mk 1,15). In Christus selbst ist das Reich Gottes gegenwärtig. Überall dort, wo seine gute Botschaft vom Leben Gottes für den Menschen vernommen wird, kann Gott, der Ewige, erfahren werden, dort, wo Heilung geschieht, dort, wo Menschen wieder leben, dort wo Versöhnung und Vertrauen wachsen können. Das ist für Christus eine erfüllte Zeit.
Die beiden Wanduhren in meinem Kloster erinnern mich mit ihrem unterschiedlichen Stundenschlag nur bedingt daran, dass die Zeit exakt gemessen werden kann. Ob sie mir nicht vielmehr zurufen, dass die Ewigkeit Gottes die Zeit ist, die er in unser Herz hineingelegt hat?
Für Menschen, die an Christus glauben, ist die Zeit darum – wie in der Regel Benedikts – eine Aufgabe, das Reich Gottes im Hier und Jetzt und nicht als Vertröstung auf später weiterzugeben, damit wir und andere leben können, damit Menschen mit dem Heil Gottes in Berührung kommen. So versteht etwa der deutsche Mystiker Meister Eckhart (+ um 1328) die Zeit, wenn er sagt: "Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch immer der, der dir gerade gegenübersteht, und das notwendigste Werk ist immer die Liebe."
Die beiden Wanduhren in meinem Kloster erinnern mich mit ihrem unterschiedlichen Stundenschlag nur bedingt daran, dass die Zeit exakt gemessen werden kann. Ob sie mir nicht vielmehr zurufen, dass die Ewigkeit Gottes die Zeit ist, die er in unser Herz hineingelegt hat? Wie heißt doch so treffend die Kantate BWV 106 von Johann Sebastian Bach (1685–1750): "Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit."