Offen für Neues – aus TraditionKonservativ und progressiv im Kloster

Konservativ zu sein, heißt für mich, Haltungen zu bewahren, die auch in der Welt von heute wertvoll sind: offen für Neues zu sein und Verantwortung füreinander zu übernehmen.

Urban Federer
© Kloster Einsiedeln

Haben Sie auch Marotten, über die andere höchstens schmunzeln können, die aber einfach zu Ihnen gehören? Bei mir ist es mit den Mandarinen so. Schon laden ihre orangen Farben wieder zum Essen ein. Ich aber strafe sie mit Gleichgültigkeit. Warum? Weil ich vor dem 6. Dezember keine Mandarinen esse. Punkt. Für mich ist klar: Der Nikolaus bringt die Mandarinen, nicht das Plakat vom Supermarkt.

Konservative Traditionen

Zugegeben, die Frage, wann Mandarinen gegessen werden sollten, ist nicht wirklich wichtig, sondern eine Luxusfrage. Dennoch: Nur weil ich Mandarinen schon seit Oktober essen könnte, heißt das noch lange nicht, dass ich das auch will. Eigensinnig bewahre ich mir diese Tradition, Mandarinen erst mit dem Tag des heiligen Nikolaus zu essen. «Bewahren» heißt übrigens auf Lateinisch "conservare". Bin ich etwa konservativ? Ich glaube schon. Ich halte es in meinem Alltag übrigens nicht nur mit den Mandarinen so. Trotz eines wunderschönen Weihnachtsmarktes in Einsiedeln feiere ich, stur wie ich bin, im Dezember zuerst die Adventszeit.

Konservative Haltungen

Ich gestehe, ich lebe mit der Benediktsregel nach einem Leitbild, das 1.500 Jahre alt ist, ich halte einen Glauben hoch, der es auf 2.000 Jahre bringt, ich gehe in die Kirche, finde Bildung wichtig, fördere die Familie, schätze die Konsensdemokratie, ziehe die Pünktlichkeit vor, sehe den Vorteil der Treue und mag es, wenn es sauber ist. Ich konserviere dabei aber nicht einfach vergangene Werte. Nicht die Vergangenheit will ich bewahren, sondern Haltungen, die mir für heute wichtig scheinen. So geht es mir nicht um Mandarinen, die ich verteidigen möchte – als hätten diese es nötig. Ich finde es aber wichtig, dass wir nicht immer alles sofort tun müssen, was wir können. Meiner Erfahrung nach ist die Freude über den Genuss nach einer Zeit des Wartens weit größer, als wenn ich alles immer und sofort konsumiere. Ich finde, wir dürfen uns und der Umwelt zuliebe die Haltung der Zurückhaltung pflegen; früher wurde sie «Enthaltsamkeit» genannt. Dabei finde ich auch das Warten-Können wichtig in unserem Leben. Ein chilenisches Sprichwort meint: "Alles kommt zu dem, der warten kann." Mit dieser Offenheit der Umwelt, dem Mitmenschen und meinem eigenen Leben gegenüber gönnte ich uns allen das Warten. Zurückhaltung und Warten-Können: Würde das nicht auch heißen, etwas mehr Respekt für wirkliche Wünsche und Sehnsüchte? Für eigene und die anderer? Konservative Werte sind für mich deshalb progressive Haltungen, die unsere Welt auch heute gut gebrauchen kann. Warten-Können, Zurückhaltung und Enthaltung – diese Eigenschaften lassen uns voranschreiten in der Verantwortung füreinander und für die Schöpfung. Und "voranschreitend" ist die Übersetzung von "progressiv".

Konservativ offen für Neues

Und ja, ich glaube an Gott. Wer an Gott glaubt, muss sich übrigens für den Menschen einsetzen – oder hat sonst nichts von Gottes Liebe verstanden (vgl. 1 Joh 4,20f.). In dieser Haltung versuchen wir in Einsiedeln, jährlich Tausende von Menschen zu empfangen, einheimische und fremde, Menschen aller Kulturen und Sprachen. Das ist ebenfalls konservativ: Wir bewahren die christliche Hoffnung, dass Gott uns immer entgegenkommt, etwa im Mitmenschen, vor allem auch im Armen, Fremden und Ausgeschlossenen. Der sich im Kind von Bethlehem zeigende Gott kommt uns in ihnen immer wieder anders entgegen – und immer wieder aufs Neue. Das Warten auf die Mandarine steht so für meine Hoffnung auf diese Gegenwart Gottes, für meinen österlichen Glauben an eine Zukunft, für die Überzeugung, dass Gottes Ja zu uns stärker ist als alles, was wir sonst erfahren, selbst als der Tod. Ich weiß, ich bin konservativ – und darum offen für das Neue. Ist so konservativ nicht progressiv?

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