"An Gottes Barmherzigkeit niemals verzweifeln"So wird das geistliche Leben nicht zur Überforderung

Das vierte Kapitel der Ordensregel der Benediktiner listet "Werkzeuge der geistlichen Kunst" auf. Die letzte Regel ist die wichtigste.

Bruno Rieder
© Henning Angerer

"Sie sind de facto ein gescheiterter Kanzler." Damit konfrontierte die ARD-Moderatorin Caren Miosga Olaf Scholz nach dem Ende der Ampel-Koalition. Eines der schlimmsten Verdikte für einen Politiker. Lautet nicht einer der geheimen Leitsätze unserer Zeit: "Du darfst nicht scheitern"? Nur die Erfolgreichen und die perfekten Selbstoptimierer zählen als Vorbilder.

Vor 36 Jahren: Ich sitze in meiner Zelle. Vor wenigen Stunden bin ich durch die Klosterpforte eingetreten, um das Leben als Benediktiner zu beginnen. Da taucht unerwartet der Gedanke auf: "Den Rest deines Lebens verbringst du nun im Kloster. Du wirst dich bemühen in der Christus-Nachfolge. Doch eines steht schon jetzt fest: Trotz all deiner Anstrengungen wirst du am Schluss sicher kein perfekter Mönch sein. Doch das ist keineswegs schlimm, deswegen ist deine Berufung als Benediktiner nicht gescheitert. Denn am Ende darfst du die Fragmente deines Mönchseins Gott anvertrauen und er wird die Bruchstücke zu einem Ganzen fügen."

Später, als ich die Benediktsregel besser kennenlernte, entdeckte ich, wie diese Eingebung am Anfang durchaus von meinem Ordensvater inspiriert war. Dieser rechnet mit vielerlei Verfehlungen im Kloster. Das kann die Ausschließung zur Folge haben, aber nicht im Sinne des sozialen Tods. Denn gerade um die Ausgeschlossen soll der Abt sich in besonderer Weise kümmern. Auf keinen Fall darf ein solcher Mitbruder wegen seines Scheiterns in den Abgrund der Verzweiflung stürzen. Der Abt soll deshalb "ältere weise Brüder" schicken. "Diese sollen den schwankenden Bruder im persönlichen Gespräch trösten (…), damit er nicht in zu tiefe Traurigkeit versinkt. Es gelte, was der Apostel sagt: 'Die Liebe zu ihm soll erstarken.'» (RB 27,2-4)

Noch ermutigender war die Entdeckung, die ich beim Studium des vierten Regelkapitels machte. Am vorletzten Wochenende trafen sich unsere Oblaten zum Jahrestreffen. Als Einstieg schauten wir zurück auf die «Werkzeuge der geistlichen Kunst», in die wir uns in den vergangenen fünf Jahren bei den monatlichen Zusammenkünften vertieft hatten. Wenn man diese 73 Instrumente der Reihe nach durchgeht, könnte einen der Schrecken packen: Wie soll ich das schaffen? Bei welcher Weisung kann ich schon behaupten, dass ich sie vollständig in die Tat umsetze?

Du magst noch so sehr scheitern, blicke unverwandt auf Jesus. In seinen erbarmenden Augen bist du niemals ein hoffnungsloser Fall. Der Weg der Reue, Vergebung und des Neubeginns steht jederzeit offen. Ganz besonders nochmals am Ende des Lebens, bei der endgültigen Begegnung mit Christus.

Benedikt scheint diese Fragen gekannt zu haben, aus eigener Erfahrung oder durch die geistliche Begleitung seiner Mitbrüder. Damit seine Liste nicht in die Resignation mündet, schließt er sie nicht mit einem weiteren Gebot, sondern mit einer Ermutigung: "Und an Gottes Barmherzigkeit niemals verzweifeln" (RB 4,74). Du magst noch so sehr scheitern, blicke unverwandt auf Jesus. In seinen erbarmenden Augen bist du niemals ein hoffnungsloser Fall. Der Weg der Reue, Vergebung und des Neubeginns steht jederzeit offen. Ganz besonders nochmals am Ende des Lebens, bei der endgültigen Begegnung mit Christus.

73 Werkzeuge – eine solche Fülle von Weisungen könnte sich wie eine schwere Bürde auf einen Christen legen. Das letzte Instrument befreit von aller Überforderung. Es führte in jenen Habitus, womit der russische Religionsphilosoph Pawel Florenski (1882-1937) seinen geistlichen Vater, den Starez Isidor, charakterisierte: "Es schien, als würde er nicht auf dieser Erde schreiten, sondern mit unsichtbaren Fäden an eine andere Welt geknüpft sein. Und wohl deshalb war er ganz von einer inneren Leichtigkeit erfüllt, und alles Schwere und alles Gewichtige verlor, kam es zu ihm, seine drückende Last."

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