Zum Charme der Klosterregel, die unter dem Namen Benedikts von Nursia bekannt geworden ist, gehört ihr großes Alter. Sie entstand um das Jahr 529. Auch Mönche und Nonnen, die per Gelübde nach dieser Regel leben, wissen, dass ein so alter Text nicht einfach eins zu eins angewendet werden kann. Es braucht Deutung, Anpassung, Hermeneutik oder, wie einer schön gesagt hat: Elastizität. Das gilt etwa bei Vorschriften über körperliche Züchtigung oder den gemeinsamen Schlafsaal – beides so nicht mehr in Übung.
Ein Kapitel, das den Klosterneulingen sorgfältig erklärt werden muss, ist überschrieben: „Dass im Kloster keiner wage, einen anderen zu verteidigen.“ Darin heißt es, dass keiner einen anderen beschützen soll. Wer das zum ersten Mal liest, findet das fragwürdig. Wenn jemandem im Kloster Unrecht getan wird, dann muss man doch aufbegehren, oder wenigstens darauf hinweisen, dass es da ein Missverständnis gibt, oder dass die Umstände sich ganz anders verhalten? Die neuzeitlichen Kommentatoren gehen darauf ein. Sie relativieren die recht unnachgiebig formulierte Norm, und völlig zu Recht.
Warum aber verfasst Benedikt dann überhaupt diesen Text? Der Nachsatz zum Eingangssatz macht das deutlich: das Verbot der Verteidigung oder des Beschützens gilt, „wie eng auch immer sie miteinander verwandt sein mögen.“ Es geht gar nicht um Recht oder Unrecht, sondern um eine Solidarisierung, die viel tiefere Ebenen berührt: Sippen- und Blutsverwandtschaft. Man darf daran denken, dass diese Regel nicht für neuzeitliche Nordeuropäer verfasst wurde, sondern für spätantike Mittelmeeranrainer, mitten in den Umbrüchen der Völkerwanderungszeit. Sippe und Familie waren die tragenden sozialen Strukturen und boten mehr Identität und Schutz als Staat und Recht.
Im Kloster aber darf das nicht so sein, sonst zerfällt die aufs Evangelium gebaute Ordnung in sich bekriegende Fraktionen.
Spaltende Dynamiken
Ein zweites kommt hinzu, das vielleicht auch für uns transalpine Neuzeitler, deren Familienbande schon recht schütter sind, noch Gewicht haben mag. Wenn man sich selber ungerecht behandelt fühlt, gibt es bei feineren Menschen noch eine gewisse Scheu, diesen persönlichen Schaden zu thematisieren. Wenn es aber um einen Dritten geht, kann man der Empörungsbereitschaft freien Lauf lassen – man ist ja jetzt Anwalt einer guten Sache. Wer da übertreibt, tut es um einer guten und vertretbaren Sache willen.
Die Benediktsregel weiß einiges vom guten Regieren. Allerdings, das sei vom Scriptorium aus auch eingeräumt: wie man Wahlen gewinnt, lernt man in ihr nicht.
Das sind Dynamiken, die Gemeinschaften – kleine Klöster geradeso wie ganze Gesellschaften – aufspalten können. Wer nicht für sich, sondern für andere kämpft – einen beschuldigten Mitbruder, Eisbären oder Landwirte – dem dürfen auch grobe Mittel recht sein. Diesen Verstärkungsmechanismus möchte Benedikt in seiner Regel unterbinden, um emotionalen Überschwang zu verhindern. Diese Abregelung der Empörung täte auch anderswo gut, damit unsere Konflikte und Gegensätze rational ausgetragen werden.
Mir kommt bei diesen Betrachtungen der bayerische Ministerpräsident in den Sinn, der sich in sehr plakativer Weise hinter die Bauernproteste gestellt hat – wohl aus Überzeugung, aber auch mit einem destabilisierenden Seitenhieb auf die Berliner Regierung. Die Benediktsregel rät anderes, und sie weiß einiges vom guten Regieren. Allerdings, das sei vom Scriptorium aus auch eingeräumt: wie man Wahlen gewinnt, lernt man in ihr nicht.