Wie viel Wein darf der Mönch trinken? Der Heilige Benedikt widmet in seiner Regel ein ganzes Kapitel dieser Frage (Benediktsregel, Kapitel 40). Meistens wird dieses Kapitel von Besuchern meines Klosters Eibingen, oberhalb von Rüdesheim im Rheingau, mit Schmunzeln wahrgenommen, passt es doch zu unserer Abtei, in der wir, umgeben von Weinbergen, auch einen Weinbau betreiben. In diesem Kapitel der Benediktsregel zeigt sich jedoch, wie Schwester Justina bereits mit dem Thema, wie die Mönche schlafen sollen, dargelegt hat, dass der Heilige Benedikt scheinbar banale Angelegenheiten des Alltags mit geistlichem Inhalt füllt. Dass das Kapitel aus der Benediktsregel über das Weintrinken zur Orientierung im Umgang mit Idealen und Realität dienen kann, habe ich vor vielen Jahren von Schwester Aquinata Böckmann gelernt.
Bei der Bestimmung des täglichen Maßes an Wein erinnert Benedikt an das große Ideal aus der Tradition, dass Mönche überhaupt keinen Wein trinken (Kapitel 40, 6). Zugleich weiß er auch um seine gegenwärtige Situation, und fast mit einem Seufzen fügt er hinzu: Davon könne man aber heute die Mönche nicht mehr überzeugen. Damit fällt man auf den Boden der Realität. Um eine Balance zwischen Ideal und Realität zu finden, schlägt er eine Minimalforderung, die der monastischen, christlichen Lebensweise würdig ist, vor. Man möge nicht bis zum Übermaß trinken, sondern ein bisschen weniger, eine "Hemina" – etwas mehr als ein Viertelliter – Wein sollte genügen.
Benedikt verbindet Hochachtung von der überlieferten Lehre und den Idealen, auch in der Überzeugung, dass sie zum gelingenden Leben beitragen, mit großherziger Annahme konkreter Menschen in ihrer konkreten Situation. Gerade diese Großzügigkeit strahlt eine Anziehungskraft aus.
Trotz dieser realistischen Regelung erklärt der Heilige Benedikt die hohen Ideale, die die Vorfahren im Glauben und dem monastischen Leben von Generation zu Generation weitergegeben haben, nicht für altmodisch und unverständlich, auch kommt er nicht auf die Idee, diese Ideale zu verwerfen. Andererseits besteht er nicht darauf, von seinen Mönchen, deren Lebensstil und Bedürfnisse er vor Augen hat, die Ideale rigoros einzufordern. Er ermutigt dazu, zu versuchen, sich anzustrengen und soweit es geht, "wenigstens" (40, 6) sich darum zu bemühen, das richtige Maß zu finden.
Er spielt überlieferte Ideale und Realität nicht gegeneinander aus und stellt sie auch nicht als Gegensätze dar. Benedikt verbindet Hochachtung von der überlieferten Lehre und den Idealen, auch in der Überzeugung, dass sie zum gelingenden Leben beitragen, mit großherziger Annahme konkreter Menschen in ihrer konkreten Situation. Gerade diese Großzügigkeit strahlt eine Anziehungskraft aus.
Es wäre ein Gedankenexperiment wert, manche Fragen, die heutzutage (kirchliche) Gemüter bewegen und bei denen, je nachdem wie man dazu Stellung nimmt, schnell Etiketten wie "liberal" oder "Reformverweigerer" ausgeteilt werden, nach dem Modell des Heiligen Benedikt durchzuspielen. Wir hören ja oft genug, wenn es um bestimmte Themen geht – vor allem, was die kirchliche Morallehre betrifft – dass man heute etliche Forderungen der Kirche nicht mehr vermitteln kann, weil keiner sich daran hält oder weil man sie heute nicht mehr versteht.
Dass eine "benediktinische" Logik für aktuelle Fragen mit Gewinn angewendet werden kann, davon zeugt Papst Franziskus mit seinem Schreiben "Amoris laetitia" (besonders Nr. 304–307), in der er einen ähnlichen Weg einschlägt, wie der Heilige Benedikt in seiner Regel. Es wäre also lohnend, mit Respekt vor den überlieferten Idealen und mit großzügiger Wahrnehmung der Realität unsere Fantasie walten zu lassen, wie kirchliche Reformen gestaltet werden können.
Gelebte Gottesbeziehung und dankbare Empfangsbereitschaft
Der Heilige Benedikt kennt aber auch ein "Darüber hinaus", jenseits der Spannung zwischen Ideal und Realität. Diejenigen, die das Ideal leben können, macht er darauf aufmerksam, dass dies eine Gabe Gottes ist (40, 4). Diejenigen, denen wegen der Ortsverhältnisse gar nicht möglich ist, das minimale Maß an Wein aufzubringen, lädt er dazu ein, Gott zu preisen (40, 8). In beiden Fällen vollzieht sich ein Perspektivenwechsel. Der Mensch schaut nicht auf sich selbst, weder auf seine Ideale noch auf seine Realität, sondern lässt sich auf eine Dynamik ein, die ihn über sich hinausführt. In gelebter Gottesbeziehung und in dankbarer Empfangsbereitschaft kann es gelingen, Ideale und Realität in Einklang zu bringen.