Urlaub im AlltagWarum die Benediktsregel keine Freizeit vorsieht

Für Ordensleute gehört die tägliche Bibellektüre zum Alltag. Sie sollen "vacare lectioni" sein – also frei sein in Kopf, Herz und Terminkalender für die Lesung der Heiligen Schrift. Denn hier ereignet sich die lebensverändernde Begegnung mit Gott.

Justina Metzdorf
© privat

Cicero, der römische Philosoph und berühmte Redner aus dem ersten Jahrhundert v.Chr., behauptete seinem Bruder Quintus gegenüber einmal: "Für die Philosophie habe ich immer Zeit!" (Cic., div. I 6,11) Mag der Terminkalender auch noch so voll sein, Cicero lässt nicht zu, dass sich irgendeine Aufgabe oder Beschäftigung so in den Vordergrund spielt, dass er im Blick auf das Philosophieren sagen muss: "Dafür habe ich jetzt keine Zeit." Das sind klare Prioritäten. Der Philosoph findet seine Identität darin, dass er "für die Philosophie immer Zeit" hat.

Ein Blick auf das lateinische Original dieser Aussage – ego vero philosophiae semper vaco – enthüllt eine verblüffende Ähnlichkeit in der Wortwahl mit einer Forderung, die der heilige Benedikt in seiner Klosterregel stellt. Das Verb "vacare" begegnet dort ebenfalls, allerdings nicht in Verbindung mit der Philosophie, sondern mit der Heiligen Schrift (vgl. Benediktsregel 48,10.22). Die Mönche sollen Zeit haben für die Lesung und Meditation der Bibel – vacare lectioni –, und zwar ohne Ausnahme an jedem Tag. Auch hier geht es um die Frage der Identität!

On vacation: Frei werden für Gott

In seinem ursprünglichen Sinn bedeutet das Wort vacare so viel wie "frei", "leer" oder "unbesetzt" sein; sowohl das englische "vacation" für Ferien und Freizeit als auch das "Vakuum", der leere Raum, leiten sich davon ab. Verstehen wir von diesen beiden Bedeutungsdimensionen her das, was Benedikt "vacare lectioni" – frei sein für die Lesung der Hl. Schrift – nennt, dann heißt das zum einen: Die Beschäftigung mit der Heiligen Schrift hat den Charakter und die Wirkung von "vacation", denn sie ist Quelle für neue Energie und Ort, der Ruhe verschafft (vgl. Mt 11,29).

So wie es das existenzielle Kennzeichen des Philosophen ist, immer Zeit für die Philosophie zu haben, ist es nach Benedikt das existenzielle Kennzeichen des Christen, immer Zeit für die Heilige Schrift zu haben, denn hier ereignet sich die lebensverändernde Begegnung mit dem Wort Gottes in Person, dem lebendigen Christus.

Das mag auch der tiefste Grund dafür sein, dass die Benediktsregel in der Tagesstruktur keine sonstige Freizeit vorsieht, wohl aber feste Zeiten für die Schriftlesung bestimmt. Damit ist ein äußerer Rahmen gesetzt, aber keineswegs garantiert, dass die Wirkung automatisch erfolgt. Das ist ja auch bei einem "normalen" Urlaub der Fall: Ob ich meine Kräfte regenerieren und mich erholen kann, hängt nicht so sehr von Ort und Zeit des Urlaubs ab, sondern davon, wie ich diese Zeit gestalte.

Lebensverändernde Begegnungen

Hier kommt die zweite Bedeutungsdimension von "vacare" ins Spiel, denn in der Formulierung steckt auch der Anspruch, in sich selbst Raum zu schaffen für die Begegnung mit dem Wort Gottes, wirklich frei zu werden. Es geht darum, sein Inneres frei zu räumen, leer zu machen von allem, was Kräfte bindet, Aufmerksamkeit einfordert und sich an die erste Stelle drängen will. Für Benedikt ist dies weit mehr als ein bloßer Willensakt. Es fordert Übung und Wiederholung. Diese Übung, die Benedikt als meditatio der Heiligen Schrift bezeichnet, führt schließlich dazu, dass sich das Wort Gottes im Herzen des Menschen fest verankert und sein ganzes Denken und Handeln prägt.

Warum ist das für das Selbstverständnis des Mönches so wichtig? Cassian (360–435), dessen Schriften zu den geistigen Quellen der Benediktsregel gehören, schreibt dazu: "Widme dich mit Eifer und ohne Unterlass der heiligen Lesung, bis die unablässige Meditation deinen Geist durchtränkt oder, wenn man so sagen darf, die Heiligen Schrift dich nach ihrem Urbild umwandelt." (Cassian, conl. 14,10) Mit dem "Urbild" ist Christus gemeint, und die Transformation, um die es hier geht, beschreibt der Apostel Paulus als das Ziel jeder christlichen Existenz: "Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir." (Gal 2,20)

So wie es das existenzielle Kennzeichen des Philosophen ist, immer Zeit für die Philosophie zu haben, ist es nach Benedikt das existenzielle Kennzeichen des Christen, immer Zeit für die Heilige Schrift zu haben, denn hier ereignet sich die lebensverändernde Begegnung mit dem Wort Gottes in Person, dem lebendigen Christus.

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