Seit der Moderne, sprich: spätestens seit Martin Luthers Thesen zum Ablass, ist der Ablass "umstritten". Und trotz inzwischen 500 Jahren Reformation halten die Päpste einschließlich Franziskus daran fest, Ablässe auszurufen, besonders wirkungsvoll zu den Heiligen Jahren. Darüber bestehen zwischen cis- und transalpinen Katholiken tief sitzende Verständnisstörungen: Wozu immer noch Heilige Jahre mit Ablässen, fragt man im Norden. Aber es waren gerade die Deutschen, die den Ablass um des lieben Geldes willen zur Schacherei und zum Unwort gemacht haben, während die Südländer entspannt von der indulgentia – Vergebung – sprechen. Tatsächlich werden es weniger die Nordlichter denn die Südländer sein, die die Schwellen der Heiligen Pforten überschreiten.
Als erster Papst lobte Bonifaz VIII. aus dem Hause Caetani im Jahr 1300 ein Jubeljahr aus mit der Verheißung einer indulgentia plenissima – einer "vollkommenen Vergebung". Die Idee, dass man zeitliche Sündenstrafen durch die indulgentia (= Ablass) tilgen könne, ging im Mittelalter, so würde man heute sagen, "viral". Ablässe waren der spirituelle Renner schlechthin.
Der Gedanke ist einfach: Die Beichte tilgt die Sünde, aber nicht die dafür fällige Buße, die gegebenenfalls im Fegfeuer zu leisten ist. Das ist im zwischenmenschlichen Bereich nicht anders: Dem Mörder ihres Sohnes kann eine Mutter vergeben, aber er muss trotzdem dafür ins Gefängnis. Der Ablass verspricht nun die Tilgung der Bußleistung aus dem Gnadenschatz der Kirche. Wer den vollkommenen Ablass erworben hat und stirbt, geht wie ein Neugetaufter direkt in den Himmel ein.
Die Päpste sprangen auf das Pferd auf
Für Historiker ist der Ablass ein Glücksfall, und dies in vielfacher Hinsicht. Ablässe waren vor allem im deutschen und französischen Raum derart populär, dass die Päpste sozusagen auf dieses Pferd aufgesprungen sind, und das mit enormem Erfolg. Schon das erste Heilige Jahr zog Massen von Pilgern aus dem Norden nach Rom. Und eine Quellengattung gewann seit der Wende zum 14. Jahrhunderts sprunghaft an Bedeutung: die Pilgerführer Roms (Mirabilia urbis Romae) mit Informationen zu den Kirchen der Stadt sowie ihren Reliquien und Ablässen. Besonders deutsche Pilger schrieben dies geflissentlich auf; und es waren überwiegend Deutsche, die die ältesten Druckereien in Rom betrieben und die Pilgerführer herstellten, die zur unentbehrlichen Gebrauchsliteratur avancierten. Aus diesen Texten kann man die Sakraltopografie und Urbanistik Roms rekonstruieren, aber auch Erkenntnisse für die deutsche Sprach- und Kulturgeschichte gewinnen.
Eine weitere Quellengattung profitiert vom Ablasswesen: die "Suppliken". Das sind Bittbriefe aus allen europäischen Ländern an den Heiligen Stuhl, unter anderem um Ablässe für Einzelpersonen, Klöster, Bruderschaften oder sonstige Institutionen zu erlangen. Die Suppliken sind in tausenden von Bänden im Vatikanarchiv gesammelt. Da gibt es viele versteckte oder offene Hinweise auf soziale, wirtschaftliche oder religiöse Verhältnisse in bestimmten Landesteilen. Zugleich werfen sie Licht auf die Art der Kommunikation und die päpstliche Verwaltung. Ferner werden Ablässe durchaus bewusst als Lenkungsinstrumente eingesetzt: Wird etwa einer bestimmten Wallfahrt ein besonderer Ablass gewährt, zieht dieser Ort mehr Menschen an als andere Pilgerstätten und erlebt einen ökonomischen Aufschwung.
Das Ablassthema ist dabei nie reine Glaubenssache. Es beschränkt sich nicht auf Fragen der "letzten Dinge", sondern es verdient wegen seiner kirchen- und kulturgeschichtlichen Implikationen alle Aufmerksamkeit der historischen Forschung.
Und es fließen Quellen, die nun auch den Raum der katholischen Kirche verlassen. Denn im Zusammenhang der lutherischen Kirchenreform hat die Ablehnung des Ablasses eine Unmenge an Literatur von Flugblättern bis hin zu polemischen Traktaten hervorgebracht. Diese wiederum haben die katholische Reaktion herausgefordert, beginnend mit den Debatten, Reformschriften und theologischen Traktaten auf dem Konzil zu Trient (1545-1563). Das Ablassthema ist dabei nie reine Glaubenssache. Es beschränkt sich nicht auf Fragen der "letzten Dinge", sondern es verdient wegen seiner kirchen- und kulturgeschichtlichen Implikationen alle Aufmerksamkeit der historischen Forschung.