Wer zum ersten Mal nach Rom kommt, vielleicht nur für ein paar Tage, ist meist von der Fülle, die hier begegnet, überwältigt. Es ist nicht nur der Verkehr, der für Menschen aus Mittel- oder Nord-Europa eher gewöhnungsbedürftig anarchisch wirkt. Es sind auch nicht die vielen Touristen aus aller Welt, die mindestens von Ostern bis Allerheiligen die Straßen im Zentrum sowie im Umkreis der bekannteren Sehenswürdigkeiten füllen. Es ist die Beschaffenheit der Stadt selbst, die den Eindruck der Fülle, ja, bisweilen schon der chaotischen Überfülle vermittelt.
Das Gefühl entsteht vor allem aufgrund der Geschichtsträchtigkeit des Ortes, die bei jedem Schritt spürbar wird. Denn es sind nicht allein Gedenktafeln, die an das Vergangene erinnern. Durch das Arrangement der Bauten präsentieren sich in Rom die Jahrhunderte im wahrsten Sinne des Wortes als übereinandergestapelt und ineinander verschachtelt. Wie Pater Mauritius Wilde es ausdrückt, ist die Stadt "massiv inklusiv: Eine Epoche umschließt gleichsam die andere." Ein römischer Stadtspaziergang entpuppt sich dadurch als eine dauernde Oszillation zwischen (vor-)christlicher Antike, Mittelalter, Renaissance, Neuzeit und Gegenwart.
Kreative Flexibilität
Der häufige Wechsel der Bodenniveaus, die beständige Unebenheit zwischen Stöckelpflaster und Asphalt kann dabei für die Knöchel schon manches Mal zur Herausforderung werden. Spannend ist es dann aber, wenn man die unterschiedlichen Stufen der Historie Schicht für Schicht präsentiert bekommt. Ein wunderbares Beispiel ist hierfür die Basilika San Clemente. Wer zunächst gebannt ist von der umwerfenden Pracht des mittelalterlichen Apsismosaiks aus dem 12. Jahrhundert, welches das Kreuz als Baum des Lebens ins Zentrum stellt, umrankt von einem blühend lebendigen Kosmos, kann sich danach auf eine Zeitreise in die beiden tieferliegenden Geschosse begeben. Von der Kirche aus dem vierten Jahrhundert auf der mittleren Ebene gelangt man schließlich bei nochmaligem Abstieg bis in die ersten Jahrhunderte nach Christus – Reste des einstigen Mithras-Tempels und antike Wasserquelle inklusive.
Auf institutioneller Ebene mag dieses Bewahren des Früheren nicht nur Ehrfurcht, sondern zunächst auch eine gewisse Starrheit vermitteln. Dysfunktionalitäten im Betrieb, Verzögerungen und lange Wartezeiten stehen dadurch jedenfalls an der Tagesordnung. Im Alltagsleben verlangt die gesellschaftliche Achtung der bestehenden Strukturen deshalb aber umso mehr kreative Flexibilität – durchaus auch immer wieder am Rande oder jenseits der Legalität. In Ausnahmeperioden wie den Jubiläumsjahren erreicht die spontane Manövrierkunst ihre Höhepunkte; die vielen vorbereitenden Bauarbeiten, die das althergebrachte Erbe im neuen Glanz erstrahlen lassen sollen, erfordern jeden Tag die Erkundung anderer Wege, abseits der sonst begangenen Routen.
Sicher ist bei der römischen Überfülle jedenfalls, dass der Stadtspaziergang nie langweilig wird, sondern dass sich hier ein ganzes Leben hindurch an allen Ecken und Enden immer wieder bis dahin noch nicht entdeckte Überreste, kuriose Geschichten und wundersame bauliche Kombinationen auftun.
Mancher mag eine solche Organisationskultur als "Gewurschtel" bezeichnen. Was sich dabei jedoch zeigt, ist ein interessanter Umgang mit Vorgegebenheiten und Grenzen, die bei allem Respekt vor dem Allgemeinen die Kunst der Improvisation befördern, um den Augenblick im Einzelnen lebbar zu machen – und dies wenn möglich noch mit Stil und Eleganz. Sicher ist bei der römischen Überfülle jedenfalls, dass der Stadtspaziergang nie langweilig wird, sondern dass sich hier ein ganzes Leben hindurch an allen Ecken und Enden immer wieder bis dahin noch nicht entdeckte Überreste, kuriose Geschichten und wundersame bauliche Kombinationen auftun. Ein Bild für die römische Tradition generell, die es vielleicht nicht nur als Last und auch weniger als starres, zu beachtendes Normenwerk, sondern vielmehr als gastfreundliches, teils ironisches Sammelsurium von bereits Gelebtem und Gedachtem wiederzuentdecken gilt? Als Fundgrube, die in geschichtlichen Tiefen, so manch verborgene Ecke und in ebenso luftige Höhen führt und dabei unzählig vielfältige Spazierwege anzubieten vermag?