Kann man, darf man formulieren: "Gott ist Freundschaft"? Diese Frage entspringt nicht aktuellen Überlegungen zur Dreifaltigkeit, auch nicht der vom Freundschaftsideal beseelten Romantik. Diese Frage stellt ein Mönch aus der Frühzeit des Zisterzienserordens: Aelred von Rievaulx, ein in England lebender und wirkender Zeitgenosse Bernhards von Clairvaux, der am 12.01.1167 verstarb und dessen die katholische Kirche daher am 12. Januar gedenkt.
Aelred zählt zu den großen Gestalten der frühen zisterziensischen Spiritualität. Seine Wirkmacht und die Strahlkraft seiner Persönlichkeit reichen zwar nicht an diejenigen Bernhards von Clairvaux heran, der das 12. Jahrhundert in einzigartiger Weise prägte. Aelred ist aber fraglos eine Zentralfigur im Kontext des beispiellosen Aufschwungs, den der neu gegründete Reformorden zu jener Zeit in England nahm – nicht umsonst gab man ihm den Beinamen eines "englischen Bernhard von Clairvaux". Unter seiner Wirkzeit als Abt blühte das bedeutende, nördlich von York gelegene Kloster in Rievaulx auf, so sehr, dass ein Biograph notieren konnte, Aelred habe alles verdoppelt: Mönche und Laienbrüder, Grundstücke und Güter des Klosters. Verdreifacht aber habe er Zucht und Liebe.
In der Tat: Aelred muss ein außergewöhnlich charismatischer und ein tief geistlicher Mensch gewesen sein. Seine Predigten zogen die Menschen in Scharen an. Bis zu seinem Tod war er trotz schwerer Erkrankung in hingebungsvoller Weise für die ihm Anvertrauten da: ein Meister der spirituellen Führung, der monastischen Theologie, der zisterziensisch geformten Liebe in Reflexion und Leben. Und in der Herzmitte seiner Biographie wie seines geistlichen Denkens steht die Freundschaft.
Ein Christ liest Cicero
Schon in der Zeit vor Aelreds Ordenseintritt, in der Jugend und in den Jahren am Hof König Davids I., ist da die Begeisterung für das Ideal freundschaftlicher Verbundenheit. Aelred braucht Freundschaften und lebt sie, und als ihm Ciceros Dialog "Laelius über die Freundschaft" in die Hände gerät, hat er eine philosophische Ausdrucksform für das gefunden, was ihn begeistert: das Ideal der Freundschaft als einer Verbindung in gegenseitiger inniger Zuwendung, die in ihrer Vollendungsform auf nichts Geringeres hinstrebt als auf die gemeinsame Verwirklichung des Guten.
Aelred wird später selbst eine bedeutende Freundschaftsschrift verfassen, einen christlichen "Laelius" gewissermaßen: den Lehrdialog "Über die geistliche Freundschaft", ein liebevoller und zugleich lebensweiser Blick auf die Realität freundschaftlicher Verbundenheit, einer der Meilensteine christlicher Freundschaftsreflexion, wieder und wieder übersetzt und bis heute lesenswert. In dieser Schrift formuliert Aelred die eingangs zitierte Frage: Ist Gott Freundschaft? Gewiss: Der Abt von Rievaulx spielt nur mit diesem Gedanken, er legt diese Frage einem der am Dialog beteiligten Schüler in den Mund und lässt den fiktiven Meister, sein literarisches Alter ego, antwortend seine Zurückhaltung ausdrücken; unkonventionell sei diese Formulierung und unbiblisch. Trinitätstheologische Konsequenzen werden nicht einmal angedeutet.
Bemerkenswert ist aber, dass Aelred überhaupt auf den Gedanken kommt, Freundschaft könne in christlich theologischer Sicht eventuell als ein Gottesprädikat angesehen werden. Dies ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund höchster Wertschätzung der Realität von Freundschaft gerade aus der Sicht einer christlichen Spiritualität. Nicht umsonst entgegnet der Meister dem um Antwort ersuchenden Schüler, nachdem er seine Zurückhaltung gegenüber dem fragenden Vorstoß zur Freundschaft als Gottesprädikat formuliert hat, dass eines dennoch legitim sei: die Übertragung des Bibelwortes "wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm" (1 Joh 4,16) auf die Freundschaft. Also: "Wer in der Freundschaft bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm" – davon ist Aelred überzeugt.
Das Leben teilen
Welches Bild der Freundschaft entsteht hier unter der Feder des Zisterzienserabtes? Freundschaft ist für Aelred Freude, Seligkeit, wunderbares Geschenk und Brennpunkt dessen, was das Leben lebenswert macht. In höchsten Tönen kann er über das Glück schreiben, das aus Freundschaft erwächst, sehr persönliche Worte finden für verlorene Freunde, die der Tod ihm entrissen. Die mit Freunden geteilte Zeit besitzt höchsten Wert, und mehr noch: In gewisser Weise macht erst die Freundesliebe den Menschen zum Menschen, indem sie seinem Streben nach der Gemeinschaft entspricht, in der Freude und Leid eines Lebensweges Widerhall finden und geteilt werden. Der Mensch ist kein einsam streifendes Tier, das ganz auf sich gestellt sein Leben erfüllen könnte.
Freundschaft ist auf die Realisierung des Guten ausgerichtet – und das Gelingen garantiert letztlich Gott, der absolut Gute, durch seine Gegenwart in den Tiefen der Freundschaftsbande.
Aber Freundschaft ist für Aelred mehr als nur Quelle des Glücks, mehr auch als das, was Cicero an ihr pries, wenn er sie als eine im Letzten tugendorientierte Beziehungsform würdigte. Freundschaft ist in Aelreds Deutung auch ein Einflussfaktor ersten Ranges im geistlichen Leben eines Menschen. Da spielt die geschwisterliche Korrektur und Ermahnung eine wichtige Rolle, die unter den Befreundeten mit dem Ziel zu praktizieren ist, einander im Tun des Guten zu bestärken. Fast noch wichtiger ist aber, dass nach Aelreds Auffassung eine Freundschaft zwischen gläubigen Menschen immer auch eine Beteiligung Gottes einschließt, der gewissermaßen als Dritter im Bunde die horizontale, zwischenmenschliche Beziehung nach oben hin öffnet. Aelred illustriert dies anhand des Fürbittgebets: Da bittet der eine Freund für den anderen – wenn aber das erbetene Gut gewährt wird, dann vertieft sich auch die Gottesbeziehung der Befreundeten. Und dieses Geschehen ist nicht sekundär, sondern resultiert aus dem Wesen der Freundschaft. Aelred geht so weit, nur dort echte, wahre Freundschaft überhaupt als möglich anzusehen, wo Menschen in einer nicht von Sünde verdunkelten Gottes- bzw. Christusbeziehung stehen. Freundschaft ist auf die Realisierung des Guten ausgerichtet – und das Gelingen garantiert letztlich Gott, der absolut Gute, durch seine Gegenwart in den Tiefen der Freundschaftsbande. Die Einwirkung ist also reziprok: Die Freundschaft fördert und stärkt die Gottesbeziehung der Befreundeten, und die Anwesenheit Gottes in der Freundschaft stärkt wiederum die Freundesbande und das Gut der gegenseitigen Verbundenheit.
Manches ist zeitbedingt
Und vor diesem Hintergrund wird vielleicht auch verständlich, wie Aelred selbst noch als Abt Freundschaften im Kloster nicht nur dulden, sondern sogar praktizieren konnte. Es wäre utopisch und würde daher den Begriff der Freundschaft überdehnen und schließlich entleeren, wollte man freundschaftliches Verbundensein zu einer Beziehungsform erklären, die das Miteinander der gesamten Klostergemeinschaft prägen müsse; daran lässt der Abt von Rievaulx keinen Zweifel. Aber innerhalb der Großgemeinschaft des Klosters sind die innigeren, partikularen Freundesbande nicht nur unproblematisch – sie sind wertvoll. Sie dienen, insofern sie zum Erlebnisort der Gottesbeziehung werden, letztlich dem ganzen Kloster.
Es ist gewiss manch Zeitbedingtes an dieser frühzisterziensischen Freundschaftsreflexion. So wird man gegenwärtig nicht mehr bereit sein, einem nichtchristlichen Kontext die Möglichkeit wahrer Freundschaft pauschal abzusprechen. Es bleiben nach der Lektüre von Aelreds Freundschaftstraktat trotzdem manche Einsichten, die auch im 21. Jahrhundert noch von Interesse sind, soziologisch, spirituell und nicht zuletzt auch ekklesiologisch. Um nur eine davon zu benennen: Anregend ist der Gedanke, dass Freundschaft eine bestärkende Funktion für die Gottesbeziehung auszuüben vermag. Vielleicht braucht die Kirche gegenwärtig mehr als je zuvor offene und einladende Freundschaftsbeziehungen als Brennpunkte geistlichen Lebens. Dass geistlich geprägte Freundschaften die Kraft besitzen, Menschen zu Gott zu führen – dies jedenfalls ist die Überzeugung Aelreds von Rievaulx.