Ein Glücksfall für die katholische BibelwissenschaftNorbert Lohfink (1928-2024)

Norbert Lohfink war Bibelwissenschaftler mit Leib und Seele und warnte zugleich vor einer Selbstüberhebung der Exegese. Er war als Forscher ebenso begnadet wie als Kommunikator. Von ihm lässt sich lernen, was es heißt, dass die Bibel "Gotteswort in Menschenwort" ist.

Atrium der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom
Atrium der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom© Luigi Santoro/PUG Information Systems/gemeinfrei

Norbert Lohfink gehörte zu den prägenden Gestalten der katholischen Bibelwissenschaft nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Zu einem kirchenpolitischen Ereignis ersten Ranges wurde die Verteidigung seiner Doktorarbeit über das Deuteronomium während der ersten Sitzungsperiode des Konzils im Jahre 1962 im Atrium der Päpstlichen Universität Gregoriana. Rund vierhundert Bischöfe und Kardinäle hatten sich eingefunden, um dem Päpstlichen Bibelinstitut den Rücken zu stärken. Die katholische Bibelwissenschaft befand sich erneut an einem Scheideweg. Römische Kreise hatten das Bibelinstitut wegen der dort praktizierten historisch-kritischen Methode angegriffen. In der Presse wurde von einer "Schlacht um die Bibel" berichtet. Seit der Modernismuskrise zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die katholische Bibelwissenschaft zu kämpfen. Es ging um die Frage, ob die Bibel wie jedes andere Dokument der Antike mit den Methoden der modernen historischen Forschung zu untersuchen sei, oder ob ihr als Zeugnis der Offenbarung Gottes im Rahmen der Wissenschaften eine Sonderbehandlung zustehe.

Die Irrtumslosigkeit der Schrift

Verhandelt wurde die Frage damals unter dem Begriff der Irrtumslosigkeit der Schrift. Norbert Lohfink erkannte früh, dass dieser Begriff nicht – wie einige im Eifer des Gefechtes meinten – aufgegeben werden müsse; wohl jedoch sah er sehr klar, dass die Sache, um die es geht, neu zu durchdenken sei. Im Rückgriff auf neuere Einsichten der Literaturwissenschaften gelang es ihm, die Irrtumslosigkeit der Schrift so zu fassen, wie sie in der frühen christlichen Tradition gemeint war: Ein biblischer Text kann nur dann Irrtumslosigkeit für sich beanspruchen, wenn er aus dem Gesamtgefüge der Heiligen Schrift heraus verstanden wird. In seinem Buch "Das Siegeslied am Schilfmeer. Christliche Auseinandersetzungen mit dem Alten Testament", Frankfurt 1965, 66f, schreibt er: "Sobald ein Wort, ein Satz, ein Buch aus dem Ganzen der Schrift herausgenommen und in sich isoliert wird [...], ist keine Garantie der Irrtumslosigkeit mehr da. Wer mit den Mitteln historischer Auslegung eine ältere biblische Sinnschicht herauspräpariert und bewusst darauf verzichtet, sie vom Christusereignis her an ihre rechte Stelle in der Gesamtaussage der Schrift zu rücken, leistet vielleicht glänzende und im Rahmen der Gesamtauslegung unentbehrliche Arbeit, darf aber nicht ohne weiteres für die resultierende Aussage Irrtumslosigkeit beanspruchen."

Gotteswort in Menschenwort

Norbert Lohfink erkannte sehr früh sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen der historisch-kritischen Exegese. Er hielt sie für notwendig, teilte aber nie den hermeneutisch naiven Optimismus jener, die meinten, mit dieser Methode die Bibelwissenschaft auf eine völlig neue Grundlage stellen zu müssen. Nach dem Konzil begrüßte er die biblische Neuausrichtung der Theologie und des kirchlichen Lebens, warnte allerdings vor Illusionen: "Ja, wir gehen biblischen Zeiten entgegen – aber gerade deshalb ist vielleicht ein Wort der Besinnung am Platz. Nicht um zu stören oder um zu bremsen, wohl aber, um vor Illusionen zu warnen, die auf Dauer zu Enttäuschungen führen müssten" (Bibelauslegung im Wandel. Ein Exeget ortet seine Wissenschaft, Frankfurt 1967, 24).

Begeistert von der historisch-kritischen Exegese meinten damals einige Exegeten, die traditionelle christlich-typologische Auslegung des Alten Testaments, wie sie vor allem in der Liturgie zur Geltung kam, sei völlig überholt und müsse entsorgt werden. Lohfink zeigte, dass eine solch radikale Lösung der Sache nicht gerecht wird.

Bereits als Student hatte er Henri de Lubac’s Exégèse médiévale. Les quatre sens de l`Écriture, Paris 1959–1964, gelesen. Begeistert von der historisch-kritischen Exegese meinten damals einige Exegeten, die traditionelle christlich-typologische Auslegung des Alten Testaments, wie sie vor allem in der Liturgie zur Geltung kam, sei völlig überholt und müsse entsorgt werden. Lohfink zeigte, dass eine solch radikale Lösung der Sache nicht gerecht wird. Eine Exegese, so schrieb er, "die von vornherein erklärt, sie wolle niemals etwas mit Typologie zu tun haben", ist "engstirnig. Woher weiß sie denn, ob nicht gerade die historische Methode sie zwingen wird, zur Typologie zurückzukehren?" (Siegeslied am Schilfmeer, 128). Schon in den Sechzigerjahren erkannte er, dass die "Integration des Historisch-Kritischen in die traditionelle katholische Inspirationslehre" nicht nur möglich, sondern theologisch notwendig sei, denn: "Der kritische Umgang mit Zeugnissen der Vergangenheit ist keine Errungenschaft der Neuzeit" (Bibelauslegung im Wandel, 50). Im späteren Rückblick auf seine frühen Thesen sah er, dass vieles eine Vorwegnahme jenes Programms war, "das später mit dem Namen ‚kanonische Schriftauslegung‘ entworfen wurde" (Studien zur biblischen Theologie, SBAB AT 16, Stuttgart 1993, 9).

Die geprägte Aussage von der Bibel als Gotteswort in Menschenwort war für ihn keine Floskel, die am Ende darauf hinausläuft, dass sich das Gotteswort bis zur Unkenntlichkeit im Menschenwort verliert. Den Begriff der Inspiration der Heiligen Schrift hat Lohfink ernst genommen: "Die Bibel ist Wort Gottes. Sie ist entstanden durch die Arbeit echter menschlicher Verfasser, aber zugleich durch göttliche Inspiration" (Bibelauslegung im Wandel, 15). Lohfink war Bibelwissenschaftler mit Leib und Seele, er warnte aber auch vor einer Selbstüberhebung der Exegese: "Dass es letztlich auf all unser eigenes Bemühen nicht ankommt, sondern nur auf Gott selbst, der beim Lesen der Schrift den Menschen anspricht, und zwar wo er will und wann er will und wie er will, und der dann selbst ein Wort in ihn senkt und in ihm lebendige Wurzel schlagen lässt, mag uns trösten, wenn uns die Aufgabe zu schwer erscheint" (ebd. 28).

Ein begnadeter Lehrer und Wissenschaftler

Norbert Lohfink besaß die selten anzutreffende Gabe, sich sowohl in der wissenschaftlichen Zunft als auch in einer theologisch und biblisch interessierten Öffentlichkeit "wie ein Fisch im Wasser" zu bewegen. Seine Vorträge wurden immer mit Spannung erwartet. Mit ihm gab es immer wieder überraschend Neues zu entdecken. Er war ein begnadeter Lehrer. Er hat der Wissenschaft bahnbrechende Studien hinterlassen, insbesondere zum Deuteronomium, zum Buch Kohelet und zu den Psalmen, insgesamt fast 900 Titel. Neben der behutsamen Neuausrichtung der katholischen Bibelwissenschaft nach dem Konzil war er im christlich-jüdischen Dialog engagiert. "Der niemals gekündigte Bund. Exegetische Gedanken zum christlich-jüdischen Dialog" sowie "Das Jüdische am Christentum. Die verlorene Dimension" legen Zeugnis davon ab. Zahlreichen kirchlichen Kommissionen stand er mit seiner Expertise zur Seite. Das Hirtenwort der Deutschen Bischöfe "Gerechter Friede" aus dem Jahre 2000 verdankt sich im Wesentlichen seinen Inspirationen.

Der Tod am Grenzfluss

In seiner Abschiedsvorlesung "Der Tod am Grenzfluss" an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen im Jahre 1996 hat Lohfink darauf hingewiesen, dass es zwischen der Tora, den fünf Büchern Mose, und den sich daran anschließenden Büchern der Vorderen Propheten einen Bruch gibt. Dieser spiegelt sich auch in der Leseordnung der Synagoge wider. Wenn die Lesung im letzten Kapitel des Deuteronomiums angekommen ist, fährt sie nicht fort mit dem Buch Josua und der Landnahme, sondern beginnt wieder von vorn mit der Erzählung von der Erschaffung von "Himmel und Erde" (Land) im Buch Genesis. Das heißt: Die eigentliche Landnahme Israels steht noch bevor. Die Gabe des Landes rückt in einen eschatologischen Horizont. Am Ende der Tora stirbt Mose mit dem Blick auf das verheißene Land; er selbst darf es nicht betreten. Was bedeutet nun die Sonderstellung der Tora für den durch das Neue Testament erweiterten Kanon? Dazu schreibt Norbert Lohfink: "Das ganze Neue Testament ist zunächst einmal nichts als ein weiterer Textbestand im vieldimensionalen Raum der 'Kommentare' zur Tora. Es geht weiter darum, wo und wann der Exodus Israels endet. Doch zugleich ist das Neue Testament nicht irgendein Kommentar unter anderen. Es ist der definitive Kommentar. In Jesus von Nazareth führt Gott den Exodus ins Ende, für Israel und auch in den längst von den Propheten erkannten Konsequenzen für die Völker. Insofern steht das Neue Testament nun dem Alten Testament zugleich groß und gewaltig gegenüber und relativiert seinen Basistext durch einen neuen" (Im Schatten deiner Flügel. Große Bibeltexte neu erschlossen, Freiburg 1999, 24f).

Die Einheit der Schrift war beim ihm kein Lippenbekenntnis, sondern gelebte geistige und wissenschaftliche Praxis.

Altes und Neues Testament standen für Lohfink nicht beziehungslos nebeneinander. Die Einheit der Schrift war bei ihm kein Lippenbekenntnis, sondern gelebte geistige und wissenschaftliche Praxis. Mit gleicher Sicherheit wie im Alten bewegte er sich im Neuen Testament. In seinen Auslegungen traten Zusammenhänge ans Licht, die so noch nie gesehen wurden. "Am Anfang der Apostelgeschichte", so zeigt er in seiner Abschiedsvorlesung, "schauen die Jünger dem entschwindenden Herrn nach. Wir wissen genau, was sie empfinden: Entzieht sich mit ihm wieder das Land, in dem wir nun doch angekommen zu sein schienen, ins Jenseits hinein? Die Engel müssen ihnen zurufen: 'Was seht ihr zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch ging und in den Himmel aufgenommen wurde, wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn habt zum Himmel hingehen sehen' (Apg 1,11). Wie analog ist das zum Tod Moses! Eines aber ist anders: Man weiß, wohin er ging, und man weiß, dass und wie er wiederkommen wird. Damit ist der Einzug geschehen. Und doch steht er für die, die von unten hochblicken, noch ein weiteres Mal aus" (ebd. 25).

In den Abendstunden des 23. September 2024 hat der Herr über Leben und Tod Norbert Lohfink im 96. Lebensjahr zu sich gerufen. Ein wahrer Meister ist von uns gegangen. R. i. P.

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