HerzschlagBischof Heiner Wilmer begegnet der in Auschwitz ermordeten Tagebuchschreiberin Etty Hillesum

Etty Hillesum, eine junge jüdische Studentin, hat in den Vierzigerjahren Tagebuch geschrieben. Bischof Heiner Wilmer taucht ein in die Texte dieser jungen Frau. Er schreibt ihr, stellt ihr Fragen über Fragen. Vor allem: Der Bischof will von dieser jungen Jüdin lernen. Andreas Main ist ihr und ihm begegnet.

Bischof Heiner Wilmer
© Gossmann/bph

Sehr geehrter Herr Bischof Wilmer, lieber Bischof Heiner, wie rede ich Sie an? Sie schreiben in ihrem Buch "Herzschlag: Etty Hillesum – Eine Begegnung", Sie seien eher zurückhaltend mit dem Duzen: "Was das Duzen und das Siezen betrifft, bin ich eher ein Siez-Typ." Ich auch.

Hier mache ich die Ausnahme. Denn so wie Sie Etty Hillesum schreiben, so will ich Ihnen schreiben. Und so wie Sie sich entscheiden, Etty einfach Etty zu nennen, so nenne ich Sie nun einfach Heiner. Denn, auch wenn Sie Ordensmann und Bischof sind, wirkt Ihr Buch auf mich so: Sie sind erst mal der Mensch Heiner Wilmer, der Pater Heiner, der Bruder Heiner. Und deswegen:

Lieber Heiner, dieses Buch ist umwerfend. Dein "Herzschlag" geht ans Herz. "Herzschlag" hat mich durchgerüttelt und -geschüttelt. "Herzschlag" geht unter die Haut. Dein kleines Buch ist groß. Es gehört zu den Büchern, die ich nicht vergessen werde. Und wenn doch, dann funktioniert etwas nicht mehr in mir. Möge dies mir und möglichst vielen erspart bleiben. Aber wenn es doch so kommt oder wenn etwas anderes Schlimmes passiert – und es wird passieren, dann bete ich mit Etty und Dir, dass es in unserem Inneren ruhig bleiben möge, dass wir dennoch sagen können: Es ist schön. Das Leben ist schön.

Ich muss Dir nicht erklären, was Du in Deinem Buch tust. Aber für die, die es noch nicht kennen: Du hattest den Plan, Exerzitien zu machen. Normalerweise gehst Du in Klöster – zu Trappisten, Zisterziensern, Benediktinern. Du hast Dir diesmal – es ist das Jahr 2020 – ein Trappistenkloster in Orval ausgesucht, im Süden Belgiens, in den Ardennen, nahe der französischen Grenze. Du freust Dich auf einfache, gesunde Mahlzeiten, auf Einkehr, auf den Weg in die Stille und die geordneten Rhythmen des klösterlichen Lebens, das Stundengebet in der Gemeinschaft.

Aber daraus wird nichts. Die Corona-Pandemie beziehungsweise die Maßnahmen zur COVID-Eindämmung machen die Reise unmöglich. Mir wurde in dieser Zeit auch ein Klosteraufenthalt unmöglich. Ich erinnere mich gut an die Enttäuschung. Du machst was draus. Du ziehst Dich zurück. In Deinem Bischofshaus gibt es einen mehr oder weniger ungenutzten Raum. Den okkupierst Du. Ich stelle mir vor – oder Du beschreibst es irgendwo: Da steht ein Tisch, eine Lampe, ein Stuhl.

Du bist aber mitten in Hildesheim, in der gewohnten Umgebung. Womöglich sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um Dich herum zu hören; der Schreibtisch und all die digitalen Geräte haben magnetische Wirkung. Doch Du ziehst Dich ganz in diesen einen Raum zurück, gehst auf Distanz zu Nachrichten, Post, Telefon, Gesprächen. Du nimmst nur die Tagebücher der Etty Hillesum mit in Deine Exerzitien. Du liest sie, verinnerlichst sie, meditierst sie. Du liest wie Etty, so mein Eindruck. Wird sie Dir zum Vorbild? Sie, die sich vertieft hat in Dostojewski, Tolstoi, die Bibel, Augustinus, Jung – und vor allem: Rilke!?

Dein Verlag hat mir die digitalen Fahnen zugeschickt. Ich habe die ersten Seiten Deines Buches in einem Café in Fulda gelesen, während Du mit Deinen Amtsbrüdern getagt hast bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz. Der Kaffee der "Kaffeerösterei" war lecker und hatte es in sich. Mir standen die Haare zu Berge – aber nicht nur wegen des Koffeins. Du liebst "Bohnenkaffee", ich saß vor einem Flat White. Es war vor allem Dein Buch, das mich elektrisiert hat. Ich wusste sofort: Ich muss Dir schreiben.

An einem Wochenende im Oktober habe ich Dein Buch meiner Frau vorgelesen. Sozusagen in einem Rutsch. Am Samstag und am Sonntag. Es ist so gut geschrieben, dass jemand wie ich, der gern vorliest, so richtig Freude daran hat, dieses Buch vorzulesen. Es empfiehlt sich aber, es nur im engsten Kreis von Vertrauten vorzulesen. Mir jedenfalls ist zwischendurch immer mal wieder die Stimme weggebrochen.

Ich fiebere Deinem Buch schon seit dem Frühjahr entgegen. Da waren wir in Hildesheim verabredet – zum "Interview der Woche" im Deutschlandfunk. Es dürfte auch jetzt noch hörenswert sein. "Meine Solidarität mit Israel ist eindeutig und endet nicht", sagtest Du damals. Es war ein politisches Interview, wobei die theologische Perspektive hoffentlich nicht zu kurz kam. Und doch: Als wir danach in der Frühjahrssonne standen zwischen Hildesheimer Dom und Bischofshaus, fragte ich Sie, Herr Bischof (!), was Sie von meiner Idee hielten, dass Bischöfe durchaus auch mal zu dem gefragt werden sollten, was sie im Innersten theologisch bewegt. Sie so: "Ich hab da was für Sie!"

Der Versuch einer Begegnung

Und Du erzähltest von Etty und Deinem Versuch, ihr zu begegnen. Du hast mich angesteckt. Ich habe mir das Buch sofort gekauft: "Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe". Das sind fast 1.000 Seiten. Eine gekürzte Version ist im Herder-Verlag erschienen: "Das denkende Herz der Baracke: Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941 - 1943".

Seitdem lese ich, wenn ich mir morgens Zeit nehme für meine "stille Stunde", immer in Ettys Tagebüchern. Ich bin jetzt auf Seite 420. Es ist die Phase, in der ihr klar wird: Die Okkupation der Niederlande durch deutsche Nationalsozialisten wird für Jüdinnen und Juden auch hier in der Katastrophe enden. Und zugleich, sagt sie, ist das vergangene Jahr für sie das glücklichste ihres bisherigen jungen Lebens. Ihr Therapeut und Freund, den sie nur S. nennt, hat in ihr ein Wachstum eröffnet, das sie immer wieder sagen lässt: Das Leben ist schön. Und das sagt eine, die in vielerlei Hinsicht gebrochen ist, die körperliche Schmerzen hat, die immer wieder in Schwermut versinkt. Ihre Tagebücher irritieren und berühren. Etty erzählt, wie sie mit Hilfe von S. reift, wächst, seelisch und körperlich – und auch, wie sie ihren Weg zu Gott findet. Auch darüber muss sie schreiben. Sie muss. So wie sie sich immer wieder hinwerfen und hinknien muss. Sie bezeichnet sich als "das Mädchen, das nicht knien konnte und es dann doch lernte auf einer rohen Kokosmatte in einem unordentlichen Badezimmer". Du zitierst mehrfach die "Kokosmatte". Sechsmal spielst Du darauf an. Damit wir uns das merken können. Ein unvergesslicher Satz.

Normalerweise mag ich es nicht, Passagen in Büchern zu markieren. Aber bei 1.000 Seiten? Mir geht es wie Dir: Mir kommt es vor allem auf jene Absätze an, wenn sie erzählt, wie sie sich umfangen weiß von etwas, das sie einfach mal Gott nennt. Genauer: Sie erfährt diese Gegenwart in ihrem Innersten. Zwar rechnet sie nicht damit, dass Gott den brüllenden Gestapo-Burschen versohlt, aber sie hat keine Angst vor ihm, weil sie betet. Ich male kleine Kreise an solche Sätze.

Du schreibst als ein Lernender. Du bist ein Lernender. Das finde ich bewundernswert an diesem Buch.

Bevor ich "Herzschlag" las, fragte ich mich: Geht das? Kann ein Mann unseres Alters über eine junge Frau schreiben? Darf ein katholischer Bischof über eine ermordete Jüdin schreiben? Es sind ein Jude und eine Jüdin, die sich genau dies auch fragen, in ihren Vorworten zu Deinem Buch. Sie sagen: Ja.

Denn Du schreibst als ein Lernender. Du bist ein Lernender. Das finde ich bewundernswert an diesem Buch. Du fragst Dich, ob Du, wenn Du jemals in eine auch nur ansatzweise vergleichbare Situation kommen würdest wie Etty, so konsequent wärest wie sie. Am Ende scheint sie es geschafft zu haben, ohne Hass zu gehen. Ettys Haltung ist so unglaublich, dass es mir schwerfällt, das so aufzuschreiben. Ich frage mich: Verweigert sie sich dem Hass, weil sie nicht Opfer werden will? Weiß sie, dass der Hass sie klein machen würde?

Du hast endlos Fragen an Etty. Du stellst ihr diese Fragen. Du wiederholst diese Fragen, so wie sie sich manchmal wiederholt: "Etty, ich habe noch tausend Fragen an Dich." Du gehst in ihre Schule, obwohl sie nicht mehr antworten kann. Wobei sie zu ihrer Zeit viele Antworten gegeben hat.

Du schreibst ihr in knappen Sätzen. Oft richtiggehend verkürzte Sätze. Als würdest Du den Gedankenstrom Deiner Exerzitien, Deine Auseinandersetzung mit Etty abbilden. Ich schätze eine gute Predigt, ich schätze akademisch-theologische Literatur (nicht alles …) Deswegen ist es nicht abwertend gemeint, wenn ich sage: Das ist weder Predigt- noch Katheter-Stil. Das ist etwas ganz Eigenes. Du triffst einen ganz speziellen Ton. Das ist Literatur.

Große Literatur, große Mystik

Papst Franziskus hat im August einen Brief geschrieben. Einen ungewöhnlichen Brief. Er empfiehlt angehenden Priestern, aber wohl auch allen, die sein Schreiben lesen, sich in theologische und literarische Klassiker zu vertiefen. Er liefert direkt ein paar Literaturtipps mit. Ihr habt Euch vermutlich nicht abgesprochen. Aber was der Papst vorschlägt, das tust Du. Du nimmst Dir Ettys Tagebücher, die 40 Jahre nach ihrem Tod entdeckt und veröffentlicht wurden, und entdeckst für Dich, wie diese junge Jüdin, die so gern Schriftstellerin oder Journalistin werden möchte, ihren Weg zu Gott findet. Du siehst und findest in ihr große Literatur und große Mystik.

Etty, könntest Du doch Heiners Buch lesen. Ihr würdet Freunde. Eure Freundschaft würde unsere Zeit, in der auch wieder dunkle Schatten aufziehen, erhellen.

Dass Juden die älteren Geschwister der Christen sind, ist schon oft gesagt und geschrieben worden. Kein denkender Mensch und schon gar kein Theologe leugnet das. Oft bleibt es aber bei Lippenbekenntnissen. Wenn es drauf ankommt, machen viele einen Rückzieher. Auch heute. Gerade nach dem 7.10. Du bist da anders. Du bist geradlinig. Du sagst ihr, der Etty: Etty, Du bist meine ältere Schwester. Was und wie Du übers Judentum schreibst – das wird viele Jüdinnen und Juden bewegen. Hoffentlich auch Muslime und Christen und Konfessionsfreie. Denn durch Deine Begegnung mit Etty wird das Persönliche zum Allgemein-Gültigen.

Etty, könntest Du doch Heiners Buch lesen. Ihr würdet Freunde. Eure Freundschaft würde unsere Zeit, in der auch wieder dunkle Schatten aufziehen, erhellen. Und jenseits Eurer Freundschaft – ich würde gern einen 40-Teiler mit Euch machen: Etty und Heiner begegnen sich. Der fände ein Publikum – fast so groß wie das Publikum, das ich Heiners "Herzschlag" wünsche.

Ich grüße herzlich. Bis hierhin bin ich: Dein Andreas

P.S.: Ich habe mich auf das Interview mit Ihnen, lieber Bischof Wilmer, sehr gefreut. Wir sprachen über Ihr Buch. Mit etwas mehr journalistischer Distanz. So wie es sich für den Deutschlandfunk gehört. Dann war ich: Herr Main und Sie Herr Bischof Wilmer. Danke Ihnen nochmals für dieses wichtige Buch. Herzlich, Ihr Andreas Main.

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