Wer am Weihnachtsmorgen in die Kirche geht, hört nicht die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium, sondern den Prolog des Johannesevangeliums: Ein schwieriger Text? Eigentlich ist er leicht zu verstehen, wenn man seine Grundlagen im Alten Testament kennt.

Johannes formuliert seinen feierlichen, fast poetischen Prolog im permanenten Rückgriff auf die Tora des Mose.

"Im Anfang war das Wort … Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist." (Joh 1,1-3)

Der Evangelist nimmt unübersehbar den Anfang der Bibel auf:

"Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde … Und Gott sprach … und Gott sprach … und Gott sprach …" (Gen 1,1ff.)

Johannes setzt ein mit dem Schöpfungsgedicht Gen 1. Zehnmal heißt es in Gen 1 "und Gott sprach". Die jüdische Tradition spricht vom Schöpfungsdekalog, mit dem Gott die Welt ins Dasein ruft. Auf den Wortbefehl Gottes hin folgt stereotyp die Vollzugsformel "und es ward so", nur in 1,3 heißt es "und es ward Licht". Siebenmal wird so festgestellt, dass alles wurde, wie Gottes Wort befohlen hatte. Sieben ist die Zahl der Vollkommenheit. Alle sechs Schöpfungstage schließen ab mit der Formel "und es ward Abend und es ward Morgen, Tag X". Nur der siebte Tag kennt keinen Abend, er ist ewiger Sabbat.

Heilige Zeit, heiliger Raum

Bei der Zählung ist zu beachten, dass es heißt "ein zweiter Tag, ein dritter Tag, ein vierter Tag". Der letzte Tag aber heißt in Gen 2,1-3 "der siebte Tag". Er ist nicht "ein Tag", sondern "der Tag" aller Tage. Vorbereitend heißt es beim sechsten in Gen 1,31: "ein Tag, der sechste" – halb unbestimmter, halb bestimmter Artikel. Zu Beginn in Gen 1,5 aber heißt es nicht etwa "erster Tag", wie die Übersetzungen behaupten, sondern "Tag eins" oder "ein Tag". "Tag eins" ist ja (noch!) nicht die Eröffnung einer Reihe, in der er "der erste" wäre. Er ist zunächst einmal nur "Tag eins", so wie Papst Franziskus nur Papst Franziskus ist. Wenn Papst Franziskus II. ins Amt kommt, wird der jetzige Papst rückwirkend "Papst Franziskus I." heißen, jetzt aber ist er nur "Franziskus", nicht "der Erste". Auch den "Ersten Weltkrieg" hat es ja vor dem 1. September 1939 nicht gegeben – nur "den Weltkrieg".

Das ist deswegen wichtig, weil alle vier Evangelisten ihr Osterevangelium beginnen mit dem Ausdruck "An Tag eins der Woche" (Mt 28,1; Mk 16,2; Lk 24,1; Joh 20,1). Über Ostern, den Tag der Neuen Schöpfung, können die Evangelisten nicht reden, ohne auf den Schöpfungsmorgen zu verweisen, auf Gen 1,5: "Tag eins".

Was wird an "Tag eins" erschaffen? Das Licht. Dieses wird dann mit der Finsternis (die "nichts" ist, nur Abwesenheit von Licht) in einen regulären Wechsel gebracht. Es entsteht Bewegung und damit die Zeit. Sofort wird sie benannt: "Tag und Nacht". Sie beginnt sogleich zu fließen und wird gezählt: "Und es ward Abend und es ward Morgen, Tag eins".

Am vierten Tag werden Sonne, Mond und Sterne erschaffen, die auf Erden die Zeit bestimmen und ablesen lassen: Der Sonnenumlauf der Erde bringt das Jahr hervor, die Erdumdrehung um die eigene Achse den Tag (mit der Nacht). Die Mondphasen bestimmen in vielen Kulturen den Kalender. Und alles zielt hin auf den siebten Tag. Er heißt in Gen 2, 1-3 noch nicht "Sabbat", aber das Verbum šbt ("aufhören, ruhen") kommt vor. Ziel der ganzen Schöpfung ist die heilige Zeit. Die ganze Schöpfung ist nach dem Gemälde von Gen 1 an der Zeitschiene des ersten, mittleren und letzten Tages aufgehängt. "Sein" ist für die Bibel "Sein in der Zeit".

 1. Tag: Zeit   4. Tag: Zeit-Messgeräte    7. Tag: Heilige Zeit 
   2. Tag: vertikaler Raum    5. Tag: Besiedlung vert. Raum  
   3. Tag: horizontaler Raum    6. Tag: Besiedlung horiz. Raum  

Zwischen den Tagen der Zeitschiene wird der Raum erschaffen und besiedelt. Am zweiten Tag wird durch die Hineinstemmung des Firmaments in den Nichtraum des Chaos (hebr.: Tohu Wabohu) der vertikale Raum geschaffen, am dritten Tag durch das Auftauchen des Landes der horizontale Raum. An den je gegenüberliegenden Tagen fünf und sechs werden diese Räume besiedelt: am fünften Tag der vertikale Raum mit Vögeln oben und Fischen unten, am sechsten Tag der horizontale Raum mit Landtieren und Menschen. 

Menschen und Tiere sind die Bewohner dieses Raums, den Gott einrichtet. Und er richtet ihn als wohnlichen Raum ein. Am dritten Tag überzieht Gott das Land mit Wiesen und Auen, also mit Teppichen und Tapeten. Am vierten Tag hängt er die Gestirne wie Lampen auf. Gott schafft die Welt für alle Lebewesen als wohnlichen Raum.

Für Gott ist die Welt aber mehr als nur eine Wohnung für Mensch und Tier. Für ihn ist sie ein Tempel. Denn am sechsten Tag heißt es bei der Erschaffung des Menschen:

"So schuf Gott den Menschen als seine Statue, als Statue Gottes schuf er ihn, männlich und weiblich schuf er sie." (Gen 1,27)

In die Wohnung hinein, die Gott für Menschen und Tiere eingerichtet hat, stellt er eine Gottesstatue. So wie in den Tempeln der heidnischen Völker im Adyton die Statue des Gottes aufgestellt ist, dem der Tempel geweiht ist, so deklariert Gott die Welt, die er eben geschaffen hat, als seinen Tempel, indem er eine Statue von sich selbst hineinstellt: den Menschen als Gottesbild, in zweifacher Ausfertigung.

Die Einwohnung Gottes in der Welt

Tatsächlich zielt das Schöpfungsgedicht Gen 1 nicht nur auf die heilige Zeit am siebten Tag, nein, es zielt auch auf den heiligen Raum. Das Gedicht endet in Gen 1,31 – 2,3 mit folgenden Worten:

Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut. Es wurde Abend, und es wurde Morgen: ein Tag, der sechste. So wurden Himmel und Erde vollendet und ihr ganzes Gefüge. Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er geschaffen hatte, und er ruhte am siebten Tag, nachdem er sein ganzes Werk vollbracht hatte. Und Gott segnete den siebten Tag und erklärte ihn für heilig; denn an ihm ruhte Gott, nachdem er das ganze Werk der Schöpfung vollendet hatte.

In Ex 24 ruft Gott den Mose auf den Sinaiberg, um ihm das Zeltheiligtum zu offenbaren, das Mose in der Wüste bauen soll, damit Gott inmitten seines Volkes wohnen und mitwandern kann. Es heißt in Ex 24,16:

Die Herrlichkeit des Herrn ließ sich auf den Sinai herab, und die Wolke bedeckte den Berg sechs Tage lang. Am siebten Tag rief der Herr mitten aus der Wolke Mose herbei.

Die Vollendung des Zeltes in Ex 39-40 wird mit ebendenselben Worten beschrieben, mit denen das Schöpfungsgedicht die Vollendung der Welterschaffung beschrieben hatte:

So wurde das ganze Werk für die Wohnstätte des Offenbarungszeltes vollendet; die Israeliten machten genau so, wie es der Herr dem Mose befohlen hatte. So machten sie es.43 Mose sah an das ganze Werk: Sie hatten es gemacht, wie der Herr es befohlen hatte. So hatten sie es gemacht, und Mose segnete sie.40,33 Er errichtete den Vorhof um die Wohnstätte und den Altar und ließ den Vorhang am Tor des Vorhofs aufhängen. So vollendete Mose das Werk. (Ex 39,32.43; 40,33)

Indem die Tora den Bogen von Gen 1 bis Ex 40 schlägt, sagt sie: Die Erschaffung der Welt ist erst dann vollendet, wenn Gott selbst im Heiligen Zelt in ihr Wohnung genommen hat. Darum zielt das Schöpfungsgedicht nicht nur auf die heilige Zeit, den Sabbat (Gen 2,1-3), sondern auch auf den heiligen Raum, das Zelt, das Mose bauen wird (Ex 40). Die Schöpfung ist auf diese Einwohnung Gottes in ihr hin geschaffen (vgl. Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments I 247).

Von der Schöpfung über den Exodus bis zur Inkarnation

Der Evangelist Johannes setzt also ein mit der Schöpfung durch das Wort:

"Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist." (Joh 1,1-3)

Johannes zielt dann auf die Verse 14-18:

"Und das Wort ist Fleisch geworden und hat gezeltet unter uns, und wir schauten seine Herrlichkeit, die Herrlichkeit als des Einziggeborenen vom Vater voll Gnade und Wahrheit. … Denn die Tora ward durch Mose gegeben, die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden" (Joh 1,14.17)

Mit der Tora des Mose, die Johannes ausdrücklich aufruft, sagt der Evangelist: Gottes Wort, das Schöpfungsprinzip in Gen 1, das selber Gott ist, Gott von Gott, es will seit Ex 40 in der Welt sein Zelt aufschlagen, um mit Israel, ja der Menschheit, zu wohnen und zu wandern. Mit der Fleischwerdung des ewigen Wortes bekräftigt Gott den Bogen, den die Tora von Gen 1 bis Ex 40 schlägt: Gott schafft die Welt als Wohnung für Mensch und Tier, ja als Tempel für sich selbst. Und so wie Gott von Anfang an kein anderes Bild von sich dulden kann außer dem, das er selbst damals geschaffen hat, den Menschen als Gottesstatue, so besteht er an Weihnachten darauf, dass Gott selbst nur als Menschgewordener sein Zelt in dieser Welt aufschlagen kann, denn der Mensch ist und bleibt die einzige Statue, die Gottes Anwesenheit in seinem Welt-Tempel darstellt. Die Menschwerdung des Gottessohnes bestätigt diese bleibende Würde jedes Menschenantlitzes, jeder Gottesstatue im heiligen Gottes-Tempel der Welt: Agnosce, o Christiane, dignitatem tuam – Erkenne, o Christ, deine Würde! (Leo d. Gr., Weihnachtspredigt 21,3).

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