I.
Im November hatte ich ihn noch besuchen wollen, als ich in Zürich war. Freunde berichteten, es gehe ihm nicht gut. Er habe seine Wohnung aufgeben müssen und sei jetzt in einem Pflegeheim, eine genaue Adresse habe man nicht. Nun ist er am 12. Januar verstorben, ohne eine Anschrift zu hinterlassen: Alois Maria Haas, 1934 geboren, von 1971 bis 1999 Professor für Literaturgeschichte in Zürich, Mystikforscher, Freund von Hans Urs von Balthasar, Leser der Communio von Anfang an, seit dem ersten Heft 1972.
II.
Im Sommer 2022 war ich zuletzt bei ihm in Uitikon Waldegg. In einer modernen Wohnanlage lebte er im ersten Stock wie ein Hieronymus im Gehäus. Seine 150-Quadratmeter-Wohnung war vollgestopft mit Büchern, von den Vorsokratikern bis zu den Ausläufern der postmodernen Philosophie, auf der Küchenablage stand neben einer spätgotischen Madonna die Gesamtausgabe der Werke von Walter Benjamin, von dem die Wendung Wind des Absoluten (2009) – der Titel eines seiner letzten Bücher – stammt. Selbst die Feuerstätte des Kamins war zugemauert mit Stapeln von Bänden aus Philosophie und Theologie. Krimis und zeitgenössische Belletristik waren im Wintergarten deponiert.
Obwohl erst 11 Uhr vormittags, öffnet Haas – erfreut über den überraschenden Besuch – eine gute Flasche spanischen Rotwein und stellt dazu auf einem alten Holzbrett ein frisches Brot auf den Tisch, das er mit einem Messer in Scheiben schneidet. Gespräche über die platonische Philosophie und die Traditionen negativer Theologie folgen. Nachdem die ersten Höflichkeiten ausgetauscht sind, spricht Haas über den Stufenweg mystischer Rede, die mit der via affirmativa beginnt und Gutes im Raum der Schöpfung aufgreift, dieses dann in der via negativa mit dem Index der Vorläufigkeit versieht, da Gott mehr und anderes ist als alles Gegenständliche in der geschöpflichen Welt, bevor dann der Überstieg in der via eminentiae geschieht. Hier wird das je größere Geheimnis in einer Kaskade von Attributen gefeiert, in der Hoffnung, den Saum des Absoluten in der überbordenden Sprachbewegung zu berühren. Es gibt, wie Haas in seinem letzten Buch Offene Horizonte (2019) ausführt, eine Verwandtschaft zwischen einer Mystik, die das "Nichts" Gottes beschwört, und Formen des Atheismus, die negative Sprachformen bemühen, um die Existenz Gottes zu bestreiten. Die Artikulationen des neuzeitlichen Atheismus rücken so als Purgatorium einer allzu unbekümmerten, ja gesprächigen Gottesrede in den Blick.
III.
Golgatha – das tödliche Verstummen des göttlichen Logos fällt mir ein. Mithörbar in der theologischen Rede von Gott müsste das Schweigen Gottes sein, von dem Ignatius von Antiochien einmal so eindringlich gesprochen hat. Auf meine Frage, ob er noch ein Projekt in Arbeit habe, kommt sofort ein entschiedenes "Ja!". Er wolle noch etwas über den Logos als "Schatten Gottes" schreiben. Bereits bei Philo von Alexandrien sei Gott keine differenzlose Monade. Der Unzugänglich-Transzendente spreche sich aus. Der Logos trete als "Schatten Gottes" aus dem unzugänglichen Licht hervor. Er sei der "zweite Gott". Im Prolog des Johannes-Evangeliums wird der Logos dann auf die Ebene Gottes gehoben und zugleich die kühne Rede von der Fleischwerdung riskiert, ohne dass wir uns deshalb am Mysterium vergreifen könnten. Hier hat die schöne Sentenz von Leo dem Großen ihren Platz: Incomprehensibilis voluit comprehendi – Der Unbegreifliche wollte sich begreiflich machen." Zugleich bleibt in der Inkarnation die Göttlichkeit unter dem Mantel der Menschlichkeit verborgen. Thomas von Aquin wird im Adoro te devote die doppelte Verborgenheit von göttlicher und menschlicher Natur im Mysterium der gewandelten Gaben von Brot und Wein besingen. Der Christus passus ist real gegenwärtig, aber zeichenhaft verhüllt. Es bleibt ein Mysterium, das nicht gemacht, wohl aber gegeben werden kann. Auch Thomas ist am Ende verstummt. "Alles, was ich geschrieben habe, ist Stroh im Vergleich zu dem, was ich erfahren habe." Thomas, der Mystiker, und die Frage, wie das Unsagbare in Sprache gebracht werden kann, das hätte Haas gereizt, der bei Suhrkamp ein Buch Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik (1996) veröffentlicht hat.
IV.
Zwischendurch eine skurrile Anekdote. Haas stammt aus einer alten Zürcher Bäckerfamilie. Die Eltern sind von der Plackerei in der Backstube so in Beschlag genommen, dass für die Kinder kaum Zeit bleibt. Der kleine Alois gilt schon bald als frech und ungezogen. Erst droht die Mutter nur, dann schickt sie ihn tatsächlich in den Sommerferien in ein Heim für schwer erziehbare Kinder. Er soll fühlen, was mit Burschen geschieht, die nicht hören wollen. In dem Heim kommt er mit Waisenkindern, Armen und schwer Erziehbaren zusammen, die übel behandelt werden. Tagsüber gibt es strengen Unterricht für die schulisch weit zurückgefallenen und teils behinderten Kinder. Schnell wird den Schwestern klar, dass Alois diesen Nachhilfeunterricht nicht nötig hat. Lesen, Schreiben und Rechnen – das alles geht ihm leicht von der Hand. Was von der Mutter als pädagogische Strafmaßnahme gedacht war, nimmt unversehens eine glückliche Wendung. Er darf tagsüber im Heim bleiben und erfährt hier die Zuwendung von "drei schönen Nonnen", wie er mit verschmitztem Blick erzählt. Sie kümmern sich in den wenigen Tagen mehr um ihn, als dies der Mutter in all den Jahren je möglich war. So bleibt das Intermezzo im Heim mit seiner besänftigenden Wirkung in schönster Erinnerung.
V.
Weiter geht das Gespräch über Inhabitation und Inkarnation. Dass die Formen der Einwohnung Gottes im Judentum – in der Wolke, in der Feuersäule, im Offenbarungszelt, dann im brennenden und doch nicht verbrennenden Dornbusch – als Formen der Kondeszendenz und des Nahekommens des Heiligen aufgefasst und damit als Matrize für die Menschwerdung Gottes im Christentum gesehen werden können, leuchtet Haas ein. Er erinnert an das Wort von "Israel als formaler Christologie", das sich in Balthasars Buber-Buch Einsame Zwiesprache findet. Noch bei Paul Celan ist vom "Zeltwort Mitsammen" die Rede. Die Offenbarung Gottes als "Immanuel" (Jes 7,14) zeigt sich auf unterschiedliche Weise im Mitgehen und Sich-Entäußern bis in die abgründige Verlorenheit.
VI.
Gleich darauf wieder eine Anekdote. Haas hat, nachdem sein Buch Nim din selbes wahr erschienen ist, 1969 einen Ruf an die McGill Universitiy in Montreal angenommen. Die Studenten dort seien offenherzig, aber auch irgendwie naiv gewesen. So habe er samstags vormittags jeweils ein mediävistisches Seminar angeboten, das stets gut besucht gewesen sei. Eine etwas hysterische Studentin habe das Seminargespräch mehrfach unterbrochen: "Luft, Luft! Tragt mich hinaus", habe sie gerufen. Und tatsächlich hätten sich jeweils ein paar Studenten gefunden, die sie herausgetragen hätten. Nach der dritten Unterbrechung habe Haas die Studentin anschließend zu sich gebeten: Was sie mit ihren Aktionen eigentlich bezwecke? Ob sie etwa erwarte, dass er selbst sie an die frische Luft trage? Ja, antwortete sie unverblümt, that would be great!
VII.
Das Gespräch nimmt seinen Lauf. Erinnerung an die Zeit im Internat bei den Patres in Engelberg, die Prägung durch die Liturgie und Lehrer, die mit ganzem Einsatz Latein, Griechisch und Geschichte unterrichtet hätten. Der Eros des Geistes, im Lesen Welten zu erschließen, das habe ihn befeuert. Jedes Buch ein Abenteuer. Einen Großteil seiner Bibliothek – 45.000 Bände – hat er schon 2003 nach Barcelona an die Pompeo Fabra Universitiy weggegeben. Das geplante Opus über den Logos als Schatten Gottes hat er nicht mehr zu Ende schreiben können. Aber: Offene Horizonte – das ist sein letztes Buch, das von der Sehnsucht nach dem Unendlichen handelt. Nun ist der homo viator Alois Maria Haas angekommen. Möge die Sehnsucht, die ihn zu Lebzeiten umgetrieben hat, in der Schau von Angesicht zu Angesicht zur Ruhe kommen. R.i.P.