Am 1. November 1950 verkündete Papst Pius XII. auf dem Petersplatz in Rom feierlich das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel. In der Apostolischen Konstitution Munificentissimus Deus heißt es: "Es ist von Gott geoffenbarte Glaubenslehre, dass die Unbefleckte Gottesgebärerin und immerwährende Jungfrau Maria nach Vollendung des irdischen Lebenslaufes mit Leib und Seele in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen wurde." Bis heute wird diesem Dogma teils mit Skepsis oder Ablehnung begegnet. Als Gründe gegen die päpstliche Festlegung werden angeführt, dass das Dogma nicht biblisch, nicht ökumenisch sensibel und im modernen Empfinden nicht anschlussfähig sei. Dennoch hat der Pacelli-Papst das bis dahin bereits als liturgisches Fest begangene Glaubensgeheimnis mit einer lehramtlichen Punktsetzung versehen.
Anders als die christologischen Dogmen der frühen Kirche kann sich das jüngste Mariendogma nicht auf eine breite Schriftbasis stützen, auch gab es keine großen und lang andauernden theologischen Kontroversen. In den ersten vier Jahrhunderten herrscht zur Frage zum Tod Mariens und der leiblichen Aufnahme in den Himmel großes Schweigen. Erst ab dem vierten Jahrhundert lässt sich im Osten ein liturgisches Fest nachweisen, im Westen wird es im siebten und achten Jahrhundert in den römischen Festkalender aufgenommen. Für die dogmatische Definition nimmt der letzte der pianischen Päpste den sensus fidelium in Anspruch, den Glaubenssinn der Gläubigen, um darauf seine unfehlbare päpstliche Entscheidung zu stützen. Nach einer Umfrage unter dem Weltepiskopat und den kirchlichen Hochschulen und Fakultäten waren die Antworten überwiegend positiv. Für Pius XII. scheint damit die allgemeine, also katholische Übereinstimmung in dieser Glaubensfrage gegeben zu sein.
An Maria ist Wirklichkeit, wozu alle Menschen berufen sind
Der Glaube der Kirche hält an der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel fest und bekennt damit, dass die Gottesmutter ganz bei Gott und in seiner Herrlichkeit ist. Was hier über die Gottesmutter gesagt wird, gilt nicht exklusiv für sie allein. An ihr ist bereits Wirklichkeit, wozu alle Menschen berufen sind. Nichts anderes als das Selbstverständnis des Menschen, der sich als Geschöpf Gottes wahrnimmt, wird hier beschrieben. Die Zukunft des Menschen besteht darin, dass die Verheißung Gottes nicht nur Wirklichkeit werden wird, sondern mit Maria bereits Wirklichkeit geworden ist. Die Erfüllung des Wortes Gottes, das Leben schenkt, bricht bereits in die Geschichte ein, kommt auf die jetzige Gegenwart zu. Das Heute kann sich von der erhofften Erfüllung bestimmen lassen. Dies ist aber nun keine Apotheose Mariens, wie sie teils in frommer Idolatrie vorgenommen wird. Sie bleibt wie jeder Mensch Geschöpf Gottes, auch als Erlöste.
Die Dogmatisierung bietet keine Vergöttlichung Mariens, will aber auch keine physikalisch-biologische Reportage dessen sein, was mit der irdischen Materie einmal geschehen wird. Allerdings wird die geistig-leibliche Grundstruktur des Menschen ernst genommen. Neognostische Erlösungslehren, die die Wirklichkeit des Leibes an der Vollendung ausklammern, sind daher ebenfalls abzuwenden. An Maria wird beispielhaft sichtbar, in welchem Verhältnis der Mensch zu Gott steht. Der Mensch als Geschöpf Gottes erfährt sich als leib-geistige Person, die in dieser Einheit seine Identität ausmacht. Erlösung des Menschen heißt demnach, ihn in seiner geschöpflichen Identität zur Vollendung in Gott zu führen. Die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel ist verbunden mit dem urkirchlichen Bekenntnis an die leibliche Auferstehung aller Gläubigen. Dies ist aber nur aus dem Glauben an die radikale Konkretheit der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus zu verstehen. Er ist die Offenbarungswirklichkeit Gottes selbst, von der und auf die sich alle Glaubensaussagen verstehen lassen. In Jesus Christus tritt Gott selbst in die Beziehung mit dem Menschen, in ihm wird diese Beziehung zu ihrem guten Ende geführt.
Aber was bedeutet nun das Glaubensgeheimnis der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel konkret, wenn es keine mystische und keine naturwissenschaftliche Erzählung sein will? Zunächst einmal rückt der Tod des Menschen in die Aufmerksamkeit des Betrachtens. Karl Rahner geht in seiner Theologie des Todes davon aus, dass den Menschen der Tod nicht nur ereilt, sondern dass jeder Mensch auch aktiv auf seinen Tod zugeht. Jeder Mensch erfährt sich als endlich und begrenzt. Diese Grenze kann beengen und Angst machen. Der Glaube daran, dass Gott die Welt geschaffen hat und sie mit seinem Willen im Sein hält, kann dagegen Grenzen und Ängste sprengen. In dieser Deutung ist der Tod nicht rein Abbruch oder Übergang in ein Nichts, sondern ein vertrauensvolles Hingehen auf den Moment einer neuen Begegnung mit dem Gott des Lebens. Im Moment des Todes offenbart sich Gott endgültig als der, der in seinem Sohn den Tod in ein neues Leben gewandelt hat. Der Tod ist Begegnung mit dem, was mit dem Bild des Himmels ausgemalt wird. Das aktive Annehmen der eigenen Sterblichkeit und das bewusste Hingehen auf den eigenen Tod ist das Hineinnehmen-Lassen in das Geschehen der Gnade Gottes, das Leben schafft und immer wieder neu in der Gemeinschaft mit Gott ermöglichen möchte.
Maria hat das Wort Gottes angenommen und ihr ganzes Leben davon durchwirken lassen, sie ist in ihrem Tod nun von Gott ganz angenommen und wird von seinem Lebenswillen voll und ganz durchdrungen.
Die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel ist die Ausbuchstabierung ihres "Ja" zu Gottes Wort (vgl. Lk 1,38). Maria hat das Wort Gottes angenommen und ihr ganzes Leben davon durchwirken lassen, sie ist in ihrem Tod nun von Gott ganz angenommen und wird von seinem Lebenswillen voll und ganz durchdrungen. Im Ja-Wort Mariens wird bereits in ihrem Leben die Wandlungskraft der Gnade Gottes wirksam. Als Mutter Jesu lebt sie im Anspruch der Gnade Gottes. Geschöpf-Sein kann als Weggemeinschaft mit der Gnade Gottes verstanden werden. Der Tod ist das Hindurchgehen in diese Gottesgemeinschaft und zugleich das Hindurchgeführt-Werden durch die Gnade Gottes selbst. Gott handelt am Menschen, aber nicht ohne den Menschen.
Die Brücke der Hoffnung
Der Himmel ist Raum der Begegnung und Gemeinschaft mit Gott. Die biblische Erzählung der Heilsgeschichte zielt genau darauf ab. Für Karl Barth ist die Schöpfung gegeben, damit Gott mit den Menschen in die Bundesbeziehung eintreten kann. Gott bietet seinem Volk immer wieder den Bund an, auch wenn es sich vom Bund abwendet. In Leben, Tod und Auferstehen kommt es zur Zusage an alle Menschen, dass das Leben das letzte Wort Gottes ist. Das ist die Bestimmung des Menschen, sein Ziel im Raum des Himmels zu erlangen.
Ein Einwand könnte nun berechtigterweise sein, dass mit der Ausrichtung auf den Himmel ein Gegensatz zur Welt aufbricht. Steht im letzten nicht doch die Natur dem Geist, die Welt dem Himmel gegenüber? Durch seinen Leib ist der Mensch immer auf die Welt bezogen, aber in seiner Person nimmt er die Welt im Geist wahr. Der Geist überschreitet auch die Materie, er sucht das Darüber hinaus, ohne seine Leiblichkeit und Weltverbundenheit hinter sich zu lassen. Der Mensch ist insofern mehr und mehr weltverbunden, je stärker er himmelsgeleitet ist.
Am Fest der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel kommt zum Ausdruck, dass Welt und Himmel nicht zwei sich abstoßende Pole sind, sondern dass Welt und Himmel, Mensch und Gott zusammengehören. Der Spalt, den Sünde und Schuld in die Beziehung zwischen Gott und Mensch einziehen, ist durch Christus überbrückt. Die Hoffnung ist die eschatologische Brücke, die den Menschen auf das Offensein Gottes für ihn öffnet. Im jüngsten marianischen Dogma spricht sich die Überzeugung aus, dass die vollendete Zukunft immer schon unserer Geschichte und Gegenwart entgegenkommt. Es kommt zur Bestimmung der Gegenwart von der Zukunft Gottes. Gott setzt in der Aufnahme Mariens in den Himmel die Antithese zur Versuchung, die Vollendung des Lebens selbst herstellen zu wollen.
Maria steht als bereits Vollendete auch für die Kontinuität der Heilsgeschichte Gottes mit allen Menschen.
Maria ist nicht nur Vorbild für den Menschen, der dem Anspruch gerecht werden kann, Bundespartner Gottes zu sein, sondern sie steht ebenfalls für die Kontinuität der Schöpfung zur eschatologischen Erlösung. Die personale Identität, die sich an der Welt bildet, wird in der Neuschöpfung des Himmels nicht ausgelöscht, auch wenn es zu einer neuen Weise des Lebens kommt. Maria steht als bereits Vollendete auch für die Kontinuität der Heilsgeschichte Gottes mit allen Menschen. Augustinus nennt sie virgo israelitica (c. Faustum Mani. 16,21). So ist in Maria auch die Kontinuität und Zusammengehörigkeit vom Alten zum Neuen Bund nicht nur sichtbar, sondern wird von ihr gelebt. In ihr sind Israel und Kirche verbunden, weshalb Thomas von Aquin sie auch als prophetissa des Neuen Bundes bezeichnen kann (vgl. Summa theologiae III q. 27 a. 5). Es ist der eine Gott, der sich das Volk Israel erwählt und sich in diesem Volk in seinem Sohn offenbart. Die leibliche Aufnahme der virgo israelitica in den Himmel muss von Christen daher auch als die Glaubensgewissheit gelesen werden, dass "ganz Israel gerettet wird" (Röm 11,26) und seinen Platz im Himmel, in der Heilsgemeinschaft mit Gott hat.