Vor dem "Grossen Saal" im Kloster Einsiedeln in der Schweiz hängt die Kopie eines Gemäldes, das der italienische Barockkünstler Pompeo Girolamo Batoni gemalt hat. Der Kopist ist unbekannt. Aber er dürfte die "Heimkehr des verlorenen Sohnes" um 1790 herum gemalt haben. Es hat die Inventarnummer 1885, so der Verantwortliche der Kunstsammlung des Klosters Einsiedeln. In diesem barocken Kloster mit seinen langen Gängen entfaltet dieses Bild eine magnetische Anziehungskraft auf mich – vor allem das Bildmotiv.
Das biblische Gleichnis von der "Heimkehr des verlorenen Sohnes" hat Künstler immer wieder in seinen Bann gezogen – auch Giganten wie Rembrandt. Sein Gemälde "Die Rückkehr des verlorenen Sohnes" ist in den letzten Lebensjahren des Rembrandt van Rijn entstanden. Es wird datiert auf 1666–1669. Rembrandts "Rückkehr des verlorenen Sohnes" hängt in der Eremitage in Sankt Petersburg. Henri J. M. Nouwen, niederländischer katholischer Theologe, Priester und Psychologe, kannte zunächst nur eine einfache Reproduktion des Gemäldes. Es war dieses Poster, das ihn dazu veranlasst hat, sich in den 1980-er Jahren mehrere Jahre an diesem Bild abzuarbeiten und alles dafür zu tun, um das Original in Sankt Petersburg zu sehen.
Auszeit mit "Lectio meditativa"
Aus dieser Auseinandersetzung heraus ist ein Klassiker der spirituellen Literatur entstanden. Ich habe diesen Klassiker im Koffer. Ich nehme Nouwens 1991 erschienenes Buch "Nimm sein Bild in dein Herz. Geistliche Deutung eines Gemäldes von Rembrandt" ins Kloster Einsiedeln mit, um ihn zwischen Gebet, Essen, Schlaf, Körperpflege und Spaziergängen zu lesen. Ich nenne es mal hochtrabend "lectio meditativa". Ich schreibe Kernsätze mit dem Füllfederhalter ab – in der Hoffnung, dass sich Nouwen oder das Bild oder Jesu Gleichnis in meinem Herzen ausbreiten. So wie die Tinte des Füllers auf dem Papier. Der Schreibtisch und die Möbel in meiner "Zelle" sind wohl nur ein paar Jahrzehnte oder ein Jahrhundert jünger als Rembrandts Gemälde. Aber sie haben schwedische Möbelhäuser und andere Modewellen überlebt. Eine Woche lebe ich in und mit Möbeln aus Barock und Rokoko. An diesem Wallfahrtsort wird nicht nur von Nachhaltigkeit geredet, sie wird gelebt.
Inzwischen nicht mehr im Kloster, lese ich die abgeschriebenen Zeilen nochmal. Und nochmal, und nochmal mit größtem Respekt. Nouwen meditiert das Rembrandt-Bild und das Gleichnis vom verlorenen Sohn so persönlich und intensiv, dass es schwer fällt, ihn zu zitieren:
"Wenn es mir gelingen würde, Rembrandt an der Stelle zu begegnen, wo er Vater und Sohn, Gott und Mensch, Erbarmen und Elend in dem einen Kreis der Liebe gemalt hatte, dann könnte ich alles über Tod und Leben erfahren, was sich mir je erschließen würde."
Nouwen geht mit einer solchen existenziellen Wucht voran auf seinem geistlichen Weg, dass sich immer wieder auch die Frage stellt: Kann unsereins als "Normalo" da auch nur ansatzweise mitgehen?
"Ich wollte meine geistliche Reise immer ein Stück weit unter Kontrolle behalten und ihr Ergebnis zumindest teilweise voraussagen können. Daher brachte ich es nicht fertig, die sichere Warte des Beobachters aufzugeben und ein verwundbarer zurückkehrender Sohn zu werden."
Ort der Hingabe und des Vertrauens
Nouwen, geboren am 24. Januar 1932, hat das Buch als rund 60-Jähriger geschrieben, als er, wie er sagt, endlich erwachsen werden wollte. Das Ringen um Erfolg, um Karriere und Anerkennung führte ihn in die Ruhelosigkeit. Seine tiefste Sehnsucht aber bestand darin, ein "Wohnung im Haus seines Vaters zu finden". Wie im Rembrandt-Bild – auf jener Ebene:
"…, wo der Vater seinen knienden Sohn umarmt. Das ist der Ort des Lichtes, der Ort der Wahrheit, der Ort der Liebe. Das ist der Ort, an den zu gelangen ich mich so sehr sehne, an dem zu sein ich mich aber so sehr fürchte. Es ist der Ort, an dem ich alles empfangen werde, was ich begehre, alles, was ich je erhoffte, aber es ist auch der Ort, wo ich alles loslassen muss, was ich am liebsten festhalten möchte. Es ist der Ort der Hingabe und des vollkommenen Vertrauens."
Zwischen den Zeilen klingt immer wieder durch, dass sich der 60-Jährige noch nicht alt fühlt, dass er hofft, noch einiges vor sich zu haben. Und doch will er raus aus einer Haltung, die so tut, als hänge alles von ihm ab, von seinen Vorträgen, von seinen Büchern und so fort.
Viel Zeit sollte ihm nicht mehr bleiben. Henri Nouwen ist am 21. September 1996 gestorben. Er war offenbar unterwegs nach Sankt Petersburg, um einen Film über Rembrandts Gemälde zu drehen. Bei einem Zwischenhalt im niederländischen Hilversum erlitt er einen Herzinfarkt. Was hatte er in seinen letzten Stunden vor seinem inneren Auge? Auch jene Gruppe von Vater und Sohn, dem ein weiterer Sohn zur Seite steht? Im Zentrum aber Vater und zerlumpter Sohn?
"Die Gruppe von Vater und Sohn ist äußerlich fast bewegungslos, aber innerlich umso bewegter. Die Geschichte handelt nicht von der menschlichen Liebe eines irdischen Vaters. Was hier gemeint und dargestellt ist, ist die göttliche Liebe und Barmherzigkeit mit ihrer Macht, Tod in Leben zu verwandeln."
Ich habe dies am Namenstag von Benedikt von Nursia abgeschrieben. Ein Feiertag im Kloster. Während des Mittagessens läutet der Abt ein Glöckchen: Dispens. Das Schweigen ist aufgehoben. Es darf geredet werden. Ich spreche Pater Benedict Arpagaus auf Nouwens Rembrandt-Buch an. Seine Augen strahlen. Ein "wunderbares Buch."
Christliche Spiritualität in höchster Verdichtung
Vieles fügt sich zusammen. Auch wenn der Weg eines Henri Nouwen arg konsequent erscheinen mag – er kennt und versteht unsere Abgründe. So wie der liebende Vater in Rembrandts Bild beziehungsweise jener Abba, von dem Jesus spricht. Und so zeigt Nouwen mir auf jeden Fall eine Richtung auf. Er bietet christliche Spiritualität in einer Verdichtung, die ihresgleichen sucht.
"Hier enthüllt sich das Geheimnis meines Lebens. Ich werde so sehr geliebt, dass es mir freisteht, von zu Hause wegzugehen. Der Segen ist von Anfang an da. Ich bin weggegangen und gehe immer wieder weg. Aber der Vater hält Ausschau nach mir mit ausgestreckten Armen, um mich wieder aufzunehmen und mir ins Ohr zu flüstern: ‚Du bist mein lieber Sohn, du gefällst mir.‘"
Ich bin froh, dass ich seine "Geistliche Deutung eines Gemäldes von Rembrandt" im Kloster gelesen habe. In einer Woche, die nicht verzweckt, von Termindruck belastet war und in der die To-do-Liste ignoriert werden durfte. In einer Woche, in der ich die langen Gänge des Klosters gemessenen Schritts auf und ab gehen konnte. Auch immer wieder hin zu jener alten Kopie "Heimkehr des verlorenen Sohnes", die 120 Jahre nach Rembrandts Gemälde entstand und die dem Kloster 2003 geschenkt wurde.
Das Bild Rembrandts könnte, so Nouwens Vorschlag, auch heißen: Rückkehr der verlorenen Söhne.
"Das Verlorensein der älteren Söhne und Töchter, dessen Kennzeichen Verärgerung und Gekränktsein, Nörgeln und Verurteilen, Neid und Verbitterung sind, ist für das menschliche Herz ein großer Schaden und ein Verderben. Der jüngere Sohn sündigte in einer Weise, die leicht festzumachen ist. Dagegen ist das Verlorensein des älteren Sohnes viel schwerer zu greifen. Schließlich macht er lauter Dinge, die richtig sind. Nach außen hin war der ältere Sohn makellos und einwandfrei. Als er aber mit der Freude über die Heimkehr seines jüngeren Bruders konfrontiert war, da kam eine in ihm brodelnde dunkle Macht zum Ausbruch. Unter den 'Redlichen' und 'Gerechten' findet sich so viel Groll und Griesgrämigkeit. Unter den 'Heiligen' gibt es so viel Vorurteil und Vorurteile, so viel abstoßende Kälte. Immer wieder auf Neue entdecke ich in mir jenes Jammern, Stöhnen, Schimpfen, Nörgeln, Sich-Bemitleiden, das unentwegt weiter geht, selbst gegen meinen Willen. Je tiefer ich einsteige, desto unentwirrbarer wird alles. In diesem untergründigen Klagen steckt eine gewaltige, das Trübe und Dunkle anziehende Kraft. Verurteilung anderer und Selbstverurteilung steigern sich gegenseitig in immer verhängnisvollerer Weise. Sobald das sich selbst ablehnende Klagen sich in uns eingenistet hat, verlieren wir unsere Spontaneität, und selbst Freude kann nicht mehr Freude in uns erwecken."
"Was für mich unmöglich ist, ist für Gott möglich"
Und hier schließt sich der Kreis wieder zum zweiten verlorenen Sohn, der sich nicht freuen kann wie der Vater über den ersten verlorenen Sohn. Der könnten wir sein. Sich so schonungslos auf seine Schatten einzulassen, wie dieser Theologe und Psychologe, dieser Henri Nouwen, dazu braucht es Mut und Zeit. Aber es lohnt sich. Auch mehr als 30 Jahre nach der Veröffentlichung.
Den Lektüre-Tipp habe ich im Übrigen von einem, der in einem Benediktinerkloster lebt und auch Psychiater und Theologe ist: von Frank-Gerald Bernhard Pajonk. Er empfahl Nouwens Buch auch öffentlich im Deutschlandfunk auf meine Frage hin, wie unser Gespräch über das Zusammenspiel von Psychologie und Theologie vertieft werden könne.
Die theologische Pointe bei Nouwen ist im Übrigen die, dass es Hilfe braucht:
"Es ist klar, dass ich allein, aus mir selbst heraus, mich selbst nicht finden kann. Es muss etwas geschehen, was ich nicht selbst machen kann, dass es geschieht. Was für mich unmöglich ist, ist für Gott möglich."
18 Seiten habe ich in meinem "Kloster-Tagebuch" gefüllt mit Nouwen. In diesem Kloster haben Mönche schon so viel abgeschrieben. Die Klosterbibliothek ist berühmt. Seit dem 10. Jahrhundert gibt es die Benediktinerabtei Einsiedeln. Zuvor war es eine Einsiedelei des Benediktiners Meinrad vom Kloster Reichenau im Bodensee. Die Klosteranlage entsteht in ihrer heutigen Form ab 1704. Vielleicht sind die Fliesen, über die ich so gern laufe, noch original. Es versetzt mich in eine erfüllte Leere. So viele Mönche und ihre Gäste sind schon über diese Fliesen gelaufen. Gutes hält länger. Auch gute Gleichnisse und spirituelle Klassiker überleben vieles. Vor allem alles Modische.
"In ihnen ist das Erbarmen verkörpert"
Ein letztes Zitat noch. Ein Zitat, das ich am Ende meiner Klostertage abgeschrieben habe:
"Dankendes Tun macht dankbar, weil es Schritt um Schritt enthüllt, dass alles Gnade ist. Vertrauen und Dankbarkeit, beides verlangt den Mut zum Risiko. An irgendeinem Punkt muss ich den Sprung des Glaubens machen und dem Vertrauen und der Dankbarkeit eine Chance geben.
Die eigentliche Mitte des Rembrandt-Bildes sind die Hände des Vaters. Auf sie ist alles Licht gebündelt; auf sie sind die Augen der Umstehenden gerichtet; in ihnen ist das Erbarmen verkörpert; in ihnen kommen Vergebung, Versöhnung und Heilung zusammen. Diese Hände sind Gottes Hände. Es sind auch die Hände meiner Eltern, Lehrer, Freunde, Helfer und all derer, die Gott mir gab, mich daran zu erinnern, wie sich gehalten und geborgen ich bin."
Der Titel der amerikanischen Originalausgabe lautet: "Canvas of Love. Reflections on a Rembrandt" (also: "Leinwand der Liebe. Reflexionen über einen Rembrandt"). Die Übersetzung von Ulrich Schütz überzeugt mich nicht an jeder Stelle. Mir liegt die 18. Auflage vor. Wenn ich irgendwann mal mehr Zeit habe, werde ich dieses Buch im Original lesen. Vielleicht auf dem Balkon oder im Urlaub oder wieder in einem Kloster.