"Du weißt ja, dass Du adoptiert worden bist"Ein Gespräch mit Schwester Anna Mirijam Kaschner

Anna Mirijam Kaschner ist Generalsekretärin der Nordischen Bischofskonferenz. Als junge Frau machte sie sich auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter. Was sie von ihr erfuhr, war für sie eine spirituelle Herausforderung.

Schwester Anna Mirijam Kaschner
© Julia Rathcke/KNA

Claudia Kaminski: Was hat Sie zum katholischen Glauben geführt?

Anna Mirijam Kaschner: Kennengelernt habe ich den katholischen Glauben über meine Schule. Ich war bei Ursulinen auf der Schule und habe dort erstmals Kontakt bekommen, intensiveren Kontakt zum katholischen Glauben. An dieser Schule herrschte eine wunderbare Atmosphäre. Das hat mich von Anfang an angesprochen. Ich war auch sehr gerne in den Schulmessen und habe da festgestellt: Ach guck mal, es müssen nicht immer politische Predigten sein, die gibt es auch über das Evangelium. Und dann habe ich mich auf die Suche gemacht und bin bei meiner jetzigen Ordensgemeinschaft in einer Gebetsgruppe gelandet und dort hatten wir an einem Abend eucharistische Anbetung. Das war völlig neu für mich. Das hatte ich vorher noch nie erlebt. Ich habe dort eine ganz intensive Nähe zur Gegenwart Gottes gespürt und wusste auf einmal: Hier ist deine Heimat, hier gehörst du hin. Bis heute ist für mich das Sakrament der Eucharistie das Zentrum – und der Grund, warum ich konvertiert bin.

Kaminski: Sie sind einem protestantischen Haushalt aufgewachsen. Wie waren Ihre Kindheitsjahre?

Kaschner: Über Glauben haben wir so gut wie nie gesprochen. Wir sind sonntags auch nicht in die Kirche gegangen, nur an Weihnachten und Ostern. Und wir haben sonntags mittags das Tischgebet gesprochen. Interessanterweise nur am Sonntag. Ansonsten war meine Kindheit relativ normal, möchte ich sagen. Ich bin auf die Grundschule gegangen, dann bin ich aufs Gymnasium gewechselt, habe Abitur gemacht und nach dem Abitur dann erst eine Banklehre versucht. Die habe ich aber nach einem Jahr abgebrochen. Und dann habe ich studiert.

"Ich habe mir zusammengereimt: Das heißt, dass deine Eltern nicht deine Eltern sind, sondern dass es irgendwo Menschen gibt, die deine biologischen Eltern sind, die dich aber aus irgendeinem Grunde nicht haben wollten und dich weggegeben haben."

Kaminski: In Ihrer Kindheit gab es ein besonderes Erlebnis mit Ihrer Mutter.

Kaschner: Das war eine ganz seltsame Situation. Ich war acht oder neun Jahre alt und wir waren nach dem Abendessen beim Spülen, meine Mutter und ich. Sie hat gespült, ich habe abgetrocknet. Wir kamen auf Familienkonstellationen in meinem Freundeskreis zu sprechen. Und irgendwann sagte meine Mutter dann aus heiterem Himmel: Du weißt ja, dass du adoptiert worden bist. Und in dem Moment konnte ich erst mal gar nicht sagen. Ich spürte aber: Das Thema ist sehr sensibel. Ich habe nicht nachgefragt und geantwortet: Ja, das weiß ich. Nach dem Abwasch bin ich in mein Zimmer gegangen, habe mir ein Lexikon geholt und das Wort "Adoption" nachgeschlagen. Ich weiß es noch, wie heute. Da stand: Annahme eines fremden Kindes an Kindes statt. Und da habe ich mir zusammengereimt: Das heißt, dass deine Eltern nicht deine Eltern sind, sondern dass es irgendwo Menschen gibt, die deine biologischen Eltern sind, die dich aber aus irgendeinem Grunde nicht haben wollten und dich weggegeben haben.

Kaminski: Können Sie sich dran erinnern, wie Sie als Kind damit umgegangen sind?

Kaschner: Ich kann mich an zwei Dinge erinnern. Das eine ist, dass ich innerlich unheimlich wütend geworden bin. Wenn wir in der Stadt Bekannte getroffen haben und dann jemand sagte: "Du siehst ganz aus, wie dein Papa", habe ich immer nur "ja, ja", geantwortet – und mir gedacht: Wie kann das sein? Die andere Sache war, dass ich mit jemandem darüber reden wollte. Aber ich wusste genau, dass meine Eltern nicht der richtige Ansprechpartner sind. Also habe ich es meiner besten Freundin erzählt – nicht wissend, dass sie es gleich in der ganzen Schulklasse weitererzählen würde. Das war eine schlimme Erfahrung. Ich weiß noch, dass die Lehrerin mich dann beiseitegenommen hat und mich gefragt hat: Kann das denn stimmen?

Kaminski: Ihre Adoptivmutter hat nicht gemerkt, dass da etwas in Ihnen arbeitet?

Kaschner: Das Thema war nach wie vor heikel und sensibel. Ich habe es nie wieder angesprochen. Aber innerlich blieb der Gedanke in mir: Es gibt irgendwo eine Frau, die dich zur Welt gebracht hat.

Kaminski: Hat sich das Verhältnis zu Ihrer Adoptivmutter dadurch verändert?

Kaschner: Sie war immer meine Mutter. Bei dem Begriff "Mutter" hatte ich immer sie vor Augen. Das ist vielleicht auch normal, weil ich die andere Frau ja nicht kannte und darum auch nicht wusste, wie sie aussieht. Darum hatte ich diesen Wunsch, diese Frau einmal zu sehen. Ich dachte: Ich muss nicht unbedingt mit ihr sprechen, aber sie möchte einmal sehen: Habe ich etwas von ihr? Bin ich ihr ähnlich? Ist da irgendetwas, das uns verbindet? Das hat mich nicht losgelassen.

"Auf einmal sah ich ein Schild mit der Aufschrift 'Jugendamt'. Da schoss es mir durch den Kopf: jetzt oder nie."

Kaminski: Wann haben Sie sich aufgemacht, Ihre leibliche Mutter zu finden?

Kaschner: Nach meinem Eintritt ins Kloster, während des Postulats war das. Das ist eine ganz spontane Aktion gewesen. Ich musste in meine Heimatstadt fahren und dort ein Gesundheitszeugnis abholen. Ich bin also beim Arzt gewesen und danach durch die Stadt gegangen. Auf einmal sah ich ein Schild mit der Aufschrift "Jugendamt". Da schoss es mir durch den Kopf: jetzt oder nie. Also stand ich in diesem Jugendamt und habe zu einer Mitarbeiterin gesagt: Ich bin adoptiert und würde gerne Kontakt zu meiner leiblichen Mutter aufnehmen, was muss man da machen? Die Mitarbeiterin hat mir dann gesagt: Wir können versuchen, ihre leibliche Mutter ausfindig zu machen und sie fragen, ob sie mit einer Kontaktaufnahme einverstanden ist. Wenn sie Nein sagt, können wir nichts machen. Aber wenn sie zustimmt, können wir ihnen die Adresse geben. Ich habe dann gesagt, sie sollen das versuchen, bin wieder zurück in mein Kloster gefahren und habe nur gedacht: Was hast du da jetzt angerichtet? Und dann ging das große Warten los. Es gingen Wochen und Monate ins Land.

Kaminski: Wie ging es dann weiter?

Kaschner: Irgendwann klingelte auf unserem Flur im Postulat das Telefon. Ich bin drangegangen, weil ich zufällig in der Nähe des Telefons war. Ich habe mich mit meinem weltlichen Namen gemeldet, weil ich damals noch nicht eingekleidet war: Annette Kaschner. Dann war ein Moment Stille im Telefon. Und dann kam die Frage: Rate mal, wer hier ist. In dem Augenblick wusste ich es. Wir haben ein bisschen gesprochen. Das war natürlich alles sehr komisch und irgendwie unbeholfen. Wir haben dann ausgemacht, dass wir uns treffen. Sie wohnte damals in Kiel und fragte: Kannst Du kommen? Denn sie selbst saß im Rollstuhl. Wir haben uns im Bahnhof in einer Kneipe verabredet. Ich war eher da und habe mir schon mal einen Kaffee bestellt. Da sah ich einen Mann, der einen Rollstuhl schob, und wusste: Das ist sie. Und sie guckt herum und ihr Blick bleibt an mir hängen. Und sie sagt: Das ist sie.

Kaminski: Wie verlief die Begegnung?

Kaschner: Wir sind zu ihr nach Hause gefahren. Ihr Lebensgefährte, der eben dabei war, hat sich dezent zurückgezogen und wir haben in der Küche gesessen. Und dann hat sie tief Luft geholt und hat gesagt: Ja, dann sag mal, was du wissen willst. Da hatte ich für mich schon mal die erste Gemeinsamkeit entdeckt. Ich dachte: Das ist also auch jemand, der nicht lange drumherum redet. Und da habe ich gesagt: Erzähl einfach mal von Anfang an. Und das, was sie mir dann erzählt hat, war nicht das, was ich mir vorgestellt hatte.

Kaminski: Warum?

Kaschner: Seit ich wusste, dass ich adoptiert bin, hatte ich verschiedene Ideen, was denn der Grund gewesen sein könnte: Geldnot, Streit in der Familie? Wurde sie von einem Partner sitzen gelassen? Oder vielleicht war der Vater ein Priester? Aber dann kam eine Antwort, mit der ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Sie hat mir gesagt, dass sie in einer Silvesternacht vergewaltigt worden ist und der unwahrscheinliche Fall eingetreten ist, dass sie schwanger geworden ist. Die Frage nach einer Abtreibung stand im Raum. Sie war aber katholisch. Sie hat mir gesagt: Abtreibung kam für mich nicht infrage. Sie hat es erst einmal niemandem gesagt, dass sie schwanger ist. Für sie war aber klar: Ich kann das Kind nicht behalten.

Kaminski: Wie alt war Ihre leibliche Mutter da?

Kaschner: Sie war 28, genauso alt, wie ich in dem Moment, wo ich ihr begegnet bin. Ihre ganze Familie wusste nicht, dass sie schwanger ist. Sie war wohl etwas korpulent, sodass das nicht aufgefallen ist. Als die Wehen einsetzen, ist sie auf der Treppe zusammengebrochen und hat zu ihrem Bruder, der ihr helfen wollte, gesagt: Ruf einen Krankenwagen, ich kriege ein Kind. Als ihr Bruder mich dann im Krankenhaus gesehen hat, wusste er sofort, wer der Vater ist. Da muss eine sehr große Ähnlichkeit gewesen sein. Das fand ich bedrückend und ich habe mich gefragt, was es für sie bedeutet, mir gegenüberzusetzen, die ich sie natürlich sofort an den Vergewaltiger erinnere.

Kaminski: Aber Ihrer leiblichen Mutter war diese Begegnung wichtig, oder?

Kaschner: Ich glaube schon. Es ging ihr darum, die Bestätigung zu haben, dass es mir gut geht. Dass ich in einer guten Familie aufgewachsen bin. Dass sie weiß: Sie hat es richtig gemacht.

"Ich habe mit mir und mit Gott gerungen: Warum hatte ich nicht das Glück, wie die meisten anderen Menschen aus einer Liebesbeziehung heraus zu entstehen, sondern aus einem Akt der Gewalt?"

Kaminski: Was geschah dann?

Kaschner: Ich bin von Kiel zurück ins Kloster gefahren. Ich war völlig durcheinander. Ich habe mit mir und mit Gott gerungen: Warum musste ich aus so einer Beziehung entstehen? Warum hatte ich nicht das Glück, wie die meisten anderen Menschen aus einer Liebesbeziehung heraus zu entstehen, sondern aus einem Akt der Gewalt? Was macht das mit mir? Wer bin ich eigentlich? Bin ich das Produkt eines Gewaltaktes? Kurz vor Weihnachten haben wir dann in der Vesper den Psalm 139 gebetet, in dem es heißt: "Deine Augen sahen, wie ich entstand." Da ist innerlich etwas in mir zusammengebrochen. Ich habe stundenlang in der Kirche gesessen und geheult. Ich habe Gott alles an den Kopf geworfen, sagte zu ihm: Du hast sogar noch dabei zugeschaut! Was soll das? Es war furchtbar.

Kaminski: Wie haben Sie es geschafft, da herauszukommen? Was hat Sie versöhnt?

Kaschner: Ein anderes Wort der Heiligen Schrift, das ich am Ersten Weihnachtstag hörte. Das war wie eine direkte Antwort von oben. Wir hören am Ersten Weihnachtstag jedes Jahr den Prolog des Johannesevangeliums. In diesem Jahr habe ich den Text als eine Botschaft direkt an mich gehört: "Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er die Macht, Kinder Gottes zu werden. Allen, die nicht aus dem Fleisch, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind." Das ist für mich bis heute die schönste Bestätigung des Daseins. Ich habe die Botschaft gehört: Es kommt nicht darauf an, wie Du entstanden bist. Ich wollte, dass Du da bist. Und ich habe meine Wege.

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