In München ist er eine Riesennummer: Tobias Haberl schreibt für das Magazin der Süddeutschen Zeitung. Wir sitzen draußen an einem Spätsommernachmittag in einem Wirtshaus des sehr alternativen Glockenbachviertels, wo Tobias Haberl auch lebt. Nach unserem Interview trinken und essen wir eine Kleinigkeit – wohl auch, weil wir merken: Wir haben uns was zu sagen. Kaum haben wir uns zugeprostet, tritt eine Frau mittleren Alters an unseren Tisch und fragt: "Sind Sie Tobias Haberl?" Er bestätigt – total überrascht. Sie sei Stewardess und sie bekundet, wie gern sie seine Kolumnen lese. Er bedankt sich. Ich mische mich mit dem Kommentar ein, er habe gerade ein Buch geschrieben – mit dem Titel: "Unter Heiden: Warum ich trotzdem Christ bleibe". Das würde sie ja dann womöglich auch gern lesen. Und sie: "Das kaufe ich mir. Ich bin kürzlich wieder in die Kirche eingetreten." Dann verabschiedet sie sich mit der Bemerkung, sie wolle nicht weiter stören. Kaum ist sie weg, platzt es aus Haberl raus: "So was passiert mir nie." Mein Konter: "Aber klar doch, Du bist halt ein Mega-Promi. Oder hast Du sie hierher bestellt, um mich zu beeindrucken?"
Dieser große, kräftige Mann mit seinen ausladenden Schritten hat etwas überaus Sensibles. Und doch würde gelehrte Theologen-Kritik an ihm abprallen, weil hier einer ein Bekenntnisbuch vorgelegt hat, das sich seiner Angreifbarkeit bewusst ist.
"Der Glaube kehrt zu mir zurück"
"Unter Heiden" ist Anfang Oktober erschienen. Größere Gespräche oder Besprechungen seines Buches gab es unter anderem in WELT, NZZ, STERN, Deutschlandfunk und COMMUNIO.
Auch noch in diesem Jahr ist Haberl eingeladen zu rund einem Dutzend Lesungen und Veranstaltungen – bis hin zur Hochschule für Philosophie der Jesuiten. Sein Buch, könnte man sagen, ist eingeschlagen bei den Lesern. Und das, obwohl oder weil ihm jegliche akademisch-theologische Attitüde fremd ist. Haberl hat Latein, Germanistik und Anglistik studiert – und eben nicht Theologie. Womöglich ließe sich spitzfindig sogar die eine oder andere theologisch wackelige These ausmachen. Aber das würde an Haberl und an seinem Buch abprallen. Nicht weil er den Charakter einer Teflonpfanne hätte, ganz im Gegenteil. Dieser große, kräftige Mann mit seinen ausladenden Schritten hat etwas überaus Sensibles. Und doch würde gelehrte Theologen-Kritik an ihm abprallen, weil hier einer ein Bekenntnisbuch vorgelegt hat, das sich seiner Angreifbarkeit bewusst ist.
Tobias Haberl ist 49 Jahre alt, geboren in einer Kleinstadt im Bayerischen Wald. Er ist römisch-katholisch, hat mehrere Bücher geschrieben. "Unter Heiden" ist ein sehr persönliches Buch. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk sagt Haberl:
"Ich habe mir lange gar nicht so viel Gedanken über meinen Glauben gemacht. 20 Jahre lang war das für mich selbstverständlich, getuschelt wurde über die, die nicht in der Messe waren. Zwischen dem 20. und ungefähr meinem 40. Lebensjahr war ich relativ weit weg vom Glauben. Ich habe Autoritäten abgeworfen, die Welt erlebt. Darüber habe ich Gott ganz vergessen. Und ich kehre jetzt seit einigen Jahren mit großer Wucht zurück. Nein, nicht ich, der Glaube kehrt zu mir zurück."
Warum er Christ bleibt:
"Eine spirituelle, transzendente Perspektive ist gerade für eine moderne Gesellschaft, die immer digitaler wird, ganz, ganz wichtig. Wenn ich bete, ändert sich nicht die Wirklichkeit, was ausnahmsweise geschehen kann. Wenn ich bete, ändert sich mein Verhältnis zur Wirklichkeit. Mir wächst eine Kraft zu, mit den Tragödien des Lebens besser umgehen zu können."
Haberl ist kein Traditionalist, wie auch Alina Rafaela Oehler hier auf Communio herausgearbeitet hat. Und doch schreibt er der Kirche im DLF ins Stammbuch:
"Was mir in den letzten Jahren zu kurz kommt, ist die Transzendenz. Als würde sie den Markenkern verlieren. Ich möchte den Blick ein wenig neu justieren und von dieser gesellschaftspolitischen Richtung weglenken zum Wesentlichen zurück."
Haberl ist prototypisch
Wer mehr wissen will, kann hören oder Tobias Haberls Buch lesen.
Ich will nun die These aufstellen: Haberl ist prototypisch. Ich behaupte, dass es ein römisch-katholisches Phänomen zu beobachten gilt, das in den Kirchen kaum jemand wahrnimmt. Die Zahl mitteljunger Großstadt-Katholikinnen und -Katholiken wächst. Entgegen allen Statistiken. Es sind nicht viele. Aber es werden mehr. Es sind zumeist Frauen und Männer, die ihr Geld außerhalb der kirchlichen Institutionen verdienen. Deswegen werden sie kirchlicherseits nicht wahrgenommen. Sie sind weder Priester noch Hauptamtliche oder Teil der Gremienkirche. Es sind Individualisten. Sie sind auch ausgesprochen unterschiedlich in ihren politischen oder weltanschaulichen Haltungen, lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Wie Tobias Haberl wirken sie allesamt nicht so, wie sich das Gros der kirchenkritischen Mehrheit oder auch der Katholiken jemanden vorstellt, die oder der sich mit Elan als Christ bekennt, ja auch das noch: als überzeugtes Mitglied der römisch-katholischen Kirche, was selbstverständlich Kritik einschließt.
Da ist Olivia Mitscherlich-Schönherr, Philosophin in Berlin und Privatdozentin an der Universität Potsdam, die vor ein paar Jahren konvertiert ist. Sie hat zwei Kinder und geht dennoch in Exerzitien, weil ihr Mann sie unterstützt. Sie engagiert sich in der Kommunionvorbereitung und als Lektorin am Ambo. Und in der WELT schreibt sie: "In den gegenwärtigen Krisen können die Erfahrungen und Haltungen helfen, die in spirituellen Prozessen erlebt und eingeübt werden." Sie empfiehlt mystische Praktiken "von christlicher Anbetung und Kontemplation bis zu fernöstlichen Praktiken wie Zen-Meditation oder Yoga. Solche Praktiken des Sich-Öffnens setzen Prozesse der Resonanz frei. Es geht um Erfahrungen eigener Endlichkeit, eigenen Angenommen- und Getragen-Seins, um Haltungen des Hörens, der Selbstkritik, des Hoffens, der Dankbarkeit. In der Mehrfachkrise unserer Tage können sie ein gesellschaftliches Miteinander stärken, das die anstehenden Transformationen demokratisch bewältigt."
Es gibt große Unterschiede zwischen all jenen katholischen Überzeugungstätern mittleren Alters. Aber was sie verbindet: Sie sind allesamt Großstadtflaneure, sind Individualisten, Freidenker, ungebunden und suchen eine Bindung, einen Halt in der römisch-katholischen Kirche.
"Für das Klein-Klein der Tagespolitik sind mir die Kirchen zu wertvoll"
Und da ist ein ehemaliger Popjournalist in Köln, heute Musik-Promoter. Wir kennen uns schon lange und sehen uns manchmal bei der Vesper der Commauté de Jerusalem. Er ist ebenfalls Konvertit und durchaus liberal. Er hat ein paar Semester katholische Theologie studiert. Auch er zieht sich immer mal wieder in Klöster zurück. Zuletzt in ein schottisches. "Dort wird das Stundengebet ausschließlich auf Latein gebetet. Das berührt mich besonders."
Da ist der Hamburger Marketing-Experte, der es wagt, über kirchliche Markenkerne nachzudenken – auf der Basis eines praktizierten Katholizismus. Er heißt Oliver Errichiello, hat unter anderem die Diözese Feldkirch in Österreich beraten. Im Deutschlandfunk sagte er:
"Ich gehe davon aus, dass die Kirche andere Parameter, eine andere Logik hat als die Welt da draußen. Und dennoch macht sie den Erfolg daran fest, wie viele Menschen bereit sind, Kirchensteuer zu bezahlen; und wir nehmen nicht wahr, wie viele Menschen der Kirche trotz aller Skandale Vertrauen schenken. Das Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit ist doch immer noch da."
Er lacht, als ich ihn frage, ob der Werbe-Experte gerade "Reklame" macht für die katholische Kirche. "Der Blick auf das Gute, was in der Kirche erbracht wird, ist verstellt durch den Missbrauchsskandal." Errichiello beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Unternehmen und Marken:
"Unternehmens-Chefs werden für bestimmte Aufgaben ausgewählt, und nicht, damit sie bestimmte politische Haltungen kundtun. Dafür haben sie nicht das Mandat und nicht die Kompetenz. Kirchen können soziale Milieus und Einstellungen überwinden. Das ist das Besondere. Sie sollten jeden Menschen ansprechen – unabhängig von Biographie und Herkunft. Ich habe Sorge, dass wir einen Teil der Bevölkerung ausschließen, wenn wir allzu starke politische Positionierungen vornehmen. Für das Klein-Klein der Tagespolitik sind mir die Kirchen zu wertvoll."
Dem würde Frank Berzbach zum Teil widersprechen. Er tickt ausgesprochen politisch. Berzbach war lange kirchenfern. Jetzt liest er Karl Rahner und Romano Guardini. Berzbachs Bücher wie "Die Kunst zu glauben. Eine Mystik des Alltags" changieren zwischen Philosophie und Theologie. Am 3. März erscheint von ihm: "Das Alphabet der Lebenskunst. Was dem Alltag Tiefe verleiht". Berzbach hat eine große Nähe zur Societas Jesu, den Jesuiten.
Berzbach ist auch ganz anders als Tobias Haberl. Auch anders als die Philosophie-Professorin oder die Schriftstellerin Nora Bossong, die sich im Zentralkomitee der Katholiken (ZdK) engagiert.
Verborgene Orte des Aufbruchs
Es gibt große Unterschiede zwischen all jenen katholischen Überzeugungstätern mittleren Alters. Aber was sie verbindet: Sie sind allesamt Großstadtflaneure, sind Individualisten, Freidenker, ungebunden und suchen eine Bindung, einen Halt in der römisch-katholischen Kirche. Sie alle strahlen und wirken beseelt, wenn sie über Klöster und Ordensleute sprechen. Sie würden sich gut verstehen, auch wenn sie streiten würden.
All das kann man abtun als anekdotische Evidenz. Ja, meinen Beobachtungen liegt keine religionssoziologische Studie zugrunde. Ich habe keine Statistik zu bieten. Und die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen (KMU) mögen anderes belegen. Aber ich meine, einen Trend auszumachen, der an den Dutzendschaften von Forscherinnen und Forschern, den zig Folgetagungen zur KMU vorbeigehen. Und selbst wenn der von mir ausgemachte Trend keiner sein sollte, so lohnt es sich dennoch, auf diese Gruppe, die keine Gruppe ist, zu achten. Es gibt Kirche auch jenseits der Generalvikariate, Pfarrhäuser, Gremien, Laien-Organisationen, Verbände und so fort. Zweifellos gibt es solche katholischen Freidenker auch in ländlichen Regionen. Da habe ich leider noch zu wenig Einblick.
Ich plädiere also für einen genaueren Blick. Es gibt den kirchlichen Niedergang. Den kann niemand weg- oder schönreden. Aber subkutan bin ich überzeugt: Es gibt an einigen Orten Aufbruch.