"Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe", stellte Carl Schmitt 1922 in seiner "Politischen Theologie" fest. Das lässt sich auch auf den Kernbegriff von Artikel 1, Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes übertragen: die Menschenwürde.
Der Vatikan hat in einem Dokument, das zahlreiche ethische Grundsatzfragen behandelt, den Begriff der Menschenwürde in den Mittelpunkt gestellt. Das Schreiben des Glaubensdikasteriums mit dem Titel "Dignitas Infinita" wurde am Montag veröffentlicht. Volker Resing attestierte dem Papier im "Cicero", es liefere eine "eher säkulare Begründung aus kirchlichem Mund". Diese Sichtweise war vom Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, aufgegleist worden. Dieser hatte den Ansatz des Papiers im Blick auf den "Dialog mit einer postsäkularen Gesellschaft" gelobt. Dass der Vatikan ethische Überlegungen auf die Menschenwürde beziehe, anstatt wie früher mit der "natürlichen Sittenordnung" zu argumentieren, stärke die "Anschluss- und Diskursfähigkeit" kirchlicher Äußerungen.
Setzt die katholische Kirche unter Papst Franziskus also neuerdings auf ein profanes Konzept zur Erörterung theologischer Fragen? Gelegentlich wird eingewandt, der Menschenwürde-Begriff sei unklar, gar eine Leerformel. Ist es da nicht problematisch, sich jetzt ausgerechnet auf diesen Begriff zu berufen, um gewichtige Themen der Morallehre zu behandeln? Oder wird hier unter der Hand gar die Grundlage für zukünftige Revision bisheriger Gewissheiten gelegt? Die Frage müsste man dann allerdings schon Papst Benedikt XVI. stellen: Im Jahr 2008 hatte die Glaubenskongregation in der Instruktion "Dignitas Personae" Probleme der Bioethik in ähnlicher Form behandelt.
Wenn das Ziel Anschlussfähigkeit war, ging der Schuss jedenfalls nach hinten los. Die meisten Reaktionen fielen hierzulande kritisch aus: Die Kommentatoren lobten zwar den Bezug auf die Menschenwürde, kritisierten aber, dass sich in dem Schreiben gerade keine Veränderungen bisheriger katholischer Moralauffassungen abzeichnen.
Wunderbar geschaffen, noch wunderbarer erneuert
Das ist aber eigentlich nicht überraschend, weil das Vatikan-Papier eine Definition voraussetzt, die sich vom säkularen Verständnis unterscheidet. Das erste Kapitel des Schreibens liefert eine präzise theologische Herleitung. Dabei handelt es sich nicht um den frommen Anstrich einer in Wirklichkeit ganz weltlichen Vokabel. Die Kirche hat jedes Recht, den Menschenwürde-Begriff für sich zu reklamieren und eigenständig zu interpretieren. Diesen Anspruch hätte das Papier noch viel stärker vertreten können. Was die Autoren nämlich nicht erwähnen: Die katholische Kirche kann sich wahrscheinlich auf die Fahnen schreiben, den Begriff selbst geprägt zu haben.
Der Text, in dem in der europäischen Geistesgeschichte erstmals von "Menschenwürde" die Rede ist, scheint sich – ja, tatsächlich – im Römischen Messbuch zu finden.
Der Ausdruck dignitas – Würde –stammt aus der römischen Gesellschaftsordnung und bezieht sich auf die politische und soziale Stellung eines Menschen, die mit bestimmten Ämtern verbunden ist. Bei Cicero findet sich der Gedanke, dass dem Menschen dignitas zukommt, insofern er Vernunft besitzt und sich damit von den Tieren unterscheidet.
Doch der Text, in dem in der europäischen Geistesgeschichte erstmals von "Menschenwürde" die Rede ist, scheint sich – ja, tatsächlich – im Römischen Messbuch zu finden. Dort gibt es ein Gebet, das in den frühesten Quellen der römischen Liturgie belegt ist. Es taucht bereits im Sacramentarium Leonianum auf, stammt also aus dem 6. Jahrhundert. Bis zur Liturgiereform in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurde es in jeder Messe gebetet. Zur Vermischung des Weines mit Wasser bei der Gabenbereitung sprach der Priester folgendes Oration:
Deus, qui humanae substantiae dignitatem mirabiliter condidisti, et mirabilius reformasti: da nobis per huius aquae et vini mysterium, eius divinitatis esse consortes, qui humanitas nostrae fieri dignatus est particeps.
Gott, der Du die Würde der menschlichen Natur wunderbar erschaffen und noch wunderbarer erneuert hast; lass uns durch das Geheimnis dieses Wassers und Weines zu Teilhabern werden an der Gottheit dessen, der sich herabgelassen hat, unser Menschsein anzunehmen.
In der Sicht dieses Gebets, das zum Zentrum der Messe gehörte, nämlich der eucharistischen Opferhandlung, ist die Würde des Menschen in Gottes Schöpfung begründet. Im Heilswerk Christi ist sie "noch wunderbarer erneuert" worden, und zwar, indem Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist und wir nun durch die Teilnahme am Sakrament Anteil an seiner Gottheit erhalten, wie es die Vermischung von Wasser und Wein zeichenhaft zum Ausdruck bringt.
Die Oration findet sich in der modernen Liturgie als Tagesgebet der dritten Weihnachtsmesse, hier ohne Bezug zum Geheimnis von Wein und Wasser. Als Weihnachtsoration war sie auch in den frühen liturgischen Quellen vorgesehen. Ab dem 9. Jahrhundert taucht sie in germanischen Adaptionen des römischen Ritus erstmals als Begleitgebet zum Ritus der Vermischung von Wein und Wasser auf. Auf diese Weise werden inkarnations- und opfertheologische Vorstellungen miteinander verschränkt: ohne Menschwerdung kein mysterium paschale.
Teilhaber an der Gottheit
Darin, dass die Oration von der dignitas der menschlichen Natur spricht, sieht der Theologe Alex Stock einen "spezifisch römischen Akzent": "Beim Wesen des Menschen geht es um seine Würde. (…) Nicht die Ausstattung mit bestimmten körperlichen oder geistigen Eigenschaften, sondern die Dignität, die zu achtende Menschenwürde, ist die eigentliche Absicht seiner Schöpfung." In Jesus Christus wird diese Würde erneuert, weil nun der Mensch die Möglichkeit hat, an der göttlichen Natur selbst Anteil zu erhalten. Stock schreibt: "Es ist ein in Gott selbst entsprungener freier Entschluss, Teilhaber der Menschennatur und ihrer Würde zu werden. (…) Weil der Eintritt in die humanitas nicht den Verlust der divinitas bedeutete, bildete sich an diesem einen neuen Menschen die Erwartung seiner nunmehrigen Seinsgenossen, auch an dieser göttlichen Natur Anteil zu erhalten. Von consortes ist die Rede, das sind Genossen, Teilhaber eines gemeinsamen Vermögens" (Orationen. Die Tagesgebete der Festzeiten neu übersetzt und erklärt, Regensburg 2014, 34-35).
Der zentrale Gedankengang der Oration scheint schon in einer Predigt von Papst Leo dem Großen (400-461) auf. Im Sermo 27 heißt es:
Expergiscere, o homo, et dignitatem tuae agnosce naturae. Recordare te factum ad imaginem Dei, quae, etsi in Adam corrupta, in Christo tamen est reformata.
Wache auf, o Mensch, und erkenne die Würde deiner Natur. Erinnere dich, dass du nach dem Bild Gottes geschaffen wurdest, das, obwohl in Adam verdorben, in Christus erneuert worden ist.
Es ist der Sündenfall, der die Erneuerung der Würde erforderlich gemacht hat. Doch auch nach dieser Erneuerung bleibt die Würde verletzlich, wie es eine andere, gleichermaßen alte, Oration der römischen Liturgie zum Ausdruck bringt. Am Donnerstag vor Palmsonntag, also kurz vor dem Höhepunkt der Fastenzeit, betete man:
Praesta, quaesumus, omnipotens Deus: ut dignitatas condicionis humanae, per immoderantiam sauciata, medicinalis parsimoniae studio reformetur.
Gewähre, wir bitten Dich, allmächtiger Gott, dass die Würde des menschlichen Standes, die durch Unmäßigkeit verletzt wurde, durch Eifer im heilsamen Fasten wiederhergestellt werde.
Man kann der Würde, die die Menschen qua condicio humana besitzen, schaden, sagt dieses Gebet, und zwar durch "Unmäßigkeit", durch all die Laster also, die zur Sünde verführen. Maßhalten und Verzicht wirken dem entgegen. Gottes Heilshandeln in Jesus Christus macht eigene Bemühungen der Menschen, der Menschenwürde entsprechend zu handeln, nicht überflüssig.
Geschöpflichkeit, Gottesebenbildlichkeit, Erlösungsbedürftigkeit
Die beiden Orationen sprechen von der substantia und der condicio des Menschen: Die Menschenwürde kommt in diesem Sinne also nicht ohne die Vorstellung aus, dass es eine Natur des Menschen gibt, dass sich etwas über sein Wesen sagen lässt. Geschöpflichkeit, Gottesebenbildlichkeit, Erlösungsbedürftigkeit – das macht im Sinne der Orationen den Menschen aus.
Die Gebete der römischen Liturgie sind theologische Kurzformeln, in denen Wesentliches sprachlich in höchstem Maße gebündelt zum Ausdruck gebracht wird. Es zeigt sich: Am Ursprung der Begriffsgeschichte steht ein metaphysisches Konzept, das sich von modernen Auffassungen unterscheidet, in denen etwa der Aspekt der personalen Autonomie zentral ist.
"Dignitas infinita" geht auf diese Genealogie nicht ein – und doch finden sich alle hier genannten Vorstellungen auch dort: Die Würde des Menschen entspringe der Liebe seines Schöpfers, heißt es da; in der Menschwerdung habe sich Christus "in gewisser Weise mit jedem Menschen" vereinigt; "der erhabenste Aspekt der Würde des Menschen" bestehe "in seiner Berufung zur Gemeinschaft mit Gott". Und weiter: Es hänge von der eigenen Entscheidung des Menschen ab, "ob er diese Würde voll zum Ausdruck bringt und manifestiert oder sie schmälert". Die Sünde könne "die Menschenwürde verwunden und verdunkeln", gleichzeitig könne sie niemals "die Tatsache auslöschen, dass der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen wurde".
Auch das Zweite Vatikanische Konzils spricht in seiner Pastoralkonstitution "Gaudium et Spes" (GS) von Christus als dem "vollkommenen Menschen", der "den Söhnen Adams die Gottebenbildlichkeit" wiedergegeben habe, "die von der ersten Sünde her verunstaltet" gewesen sei. In Christus sei "die menschliche Natur angenommen" und "dadurch auch schon in uns zu einer erhabenen Würde erhöht worden" (GS 22).
Ist das "anschluss- und diskursfähig"? Es ist jedenfalls ein Deutungsangebot, auch an die säkulare Öffentlichkeit. Ein zentraler Begriff der säkularen Verfassung des deutschen Staates besitzt eine theologisch-metaphysische Tiefensemantik. Dass der säkulare Staat von Grundlagen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, trifft sogar auf der Ebene der Begriffe zu.