Wir leben in herausfordernden Zeiten. Wenn man den einschlägigen Studien trauen darf, steht es um die psychische Gesundheit weiter Teile der Bevölkerung gegenwärtig nicht besonders gut. Aber nicht nur heute fragen sich Menschen: Wie kann man angesichts vielfältiger Belastungen, Widrigkeiten und Leiderfahrungen ein einigermaßen glückliches Leben führen? Worin besteht überhaupt das Glück? Solche Fragen stehen auch im Zentrum der alten eudämonistischen Tradition einer philosophischen Ethik, die sich als Anleitung zu praktischer Lebenskunst versteht.
Ich möchte im Folgenden zeigen, dass Ethik bei der Anleitung zu praktischer Lebenskunst sehr von Einsichten zeitgenössischer Psychotherapie profitieren kann. Dabei beziehe ich mich im Wesentlichen auf die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) und die Metakognitive Therapie nach Adrian Wells (MCT). Beide Ansätze stellen meines Erachtens hochinteressante Weiterentwicklungen bzw. Modifikationen der kognitiven Verhaltenstherapie dar. Es handelt sich um evidenzbasierte Psychotherapien, die auf solider Wissenschaft und innovativer Forschung beruhen, und deren Wirksamkeit empirisch nachgewiesen wurde (zu ausführlicheren Begründungen und Literaturhinweisen vgl. Robert Deinhammer, Ethik, Lebenskunst und Psychotherapie, in: Zeitschrift für Theologie und Philosophie, 145 [2023], 547–570).
Leiderfahrungen, Kontrollversuche und das gute Leben
Leiderfahrungen und Belastungen gehören zwangsläufig zum menschlichen Leben. Das Leben kann hart sein. Leid und Bedrängnis sind sozusagen „normal“. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass in uns regelmäßig negative automatische Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen auftauchen. Unser Gehirn ist evolutionstheoretisch betrachtet ein „Überlebensorgan“ mit einem starken Fokus auf mögliche Gefahren und Bedrohungen, und es arbeitet auch ohne unser Zutun. Es ist verständlich, dass wir diese negativen inneren Ereignisse vermeiden oder kontrollieren wollen. Allerdings haben wir hier viel weniger Kontrolle, als wir oft glauben. Häufig führen diverse Kontroll- und Vermeidungsstrategien langfristig nur zu einer Vergrößerung des Leidens. Wer sich ständig mit seinen negativen Gedanken und Gefühlen auseinandersetzt, gegen sie ankämpft oder sie zu betäuben oder zu verdrängen sucht, wird dadurch nicht glücklicher.
Überhaupt scheint die Suche nach Glück im Sinne permanenten psychischen Wohlbefindens illusorisch und sogar kontraproduktiv zu sein. Möglich ist allerdings, das eigene Verhalten trotz negativer Gedanken und Gefühle bewusst in eine Richtung zu bewegen, die unseren Werten entspricht. Dann erfahren wir Sinn und Bedeutung. Auch in der eudämonistischen Tradition der Ethik besteht das Glück des Menschen in einer entschiedenen Ausrichtung auf das Gute, letztlich in einer vernunftgemäßen Entfaltung der menschlichen Natur.
Der Punkt der Entscheidung
Als Menschen befinden wir uns ständig in irgendwelchen Situationen, die uns zu einem Verhalten herausfordern. Unser Leben ist eine Abfolge von Entscheidungen. In jeder Situation kann man sich für ein Verhalten entscheiden, das uns in die Richtung der eigenen Werte bewegt, sogar wenn man äußerlich nicht viel tun kann. Werte sind dabei nicht einfach Ziele, die man abhaken könnte, wenn man sie erreicht hat, sondern ersehnte dauerhafte Qualitäten des eigenen Handelns. In traditioneller Ausdrucksweise würde man von "Tugenden" reden. Was für ein Mensch möchte ich sein? Wie möchte ich mich in verschiedenen Bereichen verhalten, in meinen Beziehungen, in Beruf und Freizeit, in der Ausbildung, als Staatsbürger, als Anhängerin einer bestimmten Religion, mir und meinem Körper gegenüber, bei Misserfolgen und im Scheitern?
Wenn wir uns in Richtung unserer Wertvorstellungen bewegen, wird unser Leben reicher und erfüllter. Ganz kleine Schritte in die richtige Richtung sind dabei schon ein guter Anfang. Im Gegensatz dazu stehen die "Abseits-Bewegungen", die uns in eine Richtung führen, die nicht unseren tiefsten Werten entspricht. Solche "Abseits-Bewegungen" entstehen häufig dadurch, dass wir in schwierigen Situationen ganz in unsere negativen Gedanken und Gefühle verstrickt sind und uns von ihnen bestimmen lassen. Natürlich sind nicht alle "Abseits-Bewegungen" problematisch. Aber wenn sie überhandnehmen, führen sie uns weg von einem erfüllten Leben und vergrößern auf die Dauer und im Ganzen das Leid. Wichtig ist also, die eigenen Werte zu kennen, entsprechend zu handeln und hilfreiche Strategien anzuwenden, um sich von negativen Gedanken und Gefühlen nicht bestimmen lassen zu müssen.
Akzeptanz und Achtsamkeit
Zu den hilfreichen Strategien gehört es, negativen Gedanken und Gefühlen mit Akzeptanz und Achtsamkeit zu begegnen. Das bedeutet nicht, dass wir eine positive Einstellung ihnen gegenüber entwickeln müssten. Aber es geht darum, sie möglichst wertfrei-distanziert wahrzunehmen und als das zu betrachten, was sie sind: Innere Ereignisse und keine Tatsachen. So verlieren sie an Macht und Gewicht, und unsere Psyche kann sich selbst regulieren.
Bei der Metakognitiven Therapie spielt das Konzept der "losgelösten Achtsamkeit" (detached mindfulness) eine wichtige Rolle. Aus Sicht dieser Therapieform stellt exzessives negatives Denken wie Grübeln, Sich-Sorgen-Machen und Bedrohungsmonitoring den entscheidenden Faktor für die Verursachung und Aufrechterhaltung von psychischen Problemen dar. Losgelöste Achtsamkeit wäre der Gegensatz zu solchem exzessiven Denken. Wann immer ein typischer negativer "Trigger-Gedanke" auftaucht (zum Beispiel: "Was ist, wenn ich den Job verliere und wir uns die Wohnung nicht mehr leisten können?"), der sonst Anlass zu Grübeln, Sich-Sorgen-Machen oder Gedankenunterdrückung böte, empfiehlt es sich, diesen Gedanken als bloßes inneres Ereignis wahrzunehmen und ihn einfach sein zu lassen. Es geht also darum, sich nicht weiter mit ihm zu beschäftigen (ohne ihn dabei kontrollieren oder unterdrücken zu wollen), und dies immer wieder neu, wenn der "Trigger-Gedanke" zurückkehrt.
Losgelöste Achtsamkeit bedeutet, automatische Gedanken, Impulse sowie die damit einhergehenden Emotionen bewusst im metakognitiven Modus wahrzunehmen, also als bloße innere Ereignisse, die sowohl von der Realität als auch vom eigenen Selbst unterschieden sind. Zusätzlich sollte man auf jede Art der Auseinandersetzung mit solchen inneren Ereignissen verzichten. Man nimmt eine losgelöst-distanzierte Beziehung zu ihnen ein, in der man völlig passiv in der Beobachterrolle verbleibt ("Tu-nichts-Strategie"). Stattdessen wendet man sich wichtigeren Dingen zu und betreibt etwa sinnvolles, zeitlich beschränktes Problemlösen.
Gedanken über das Denken
Schädliche Aufmerksamkeitsstrategien und Denkprozesse wie exzessives Grübeln, Sich-Sorgen-Machen oder ständiges Vergleichen mit anderen werden letztlich von bestimmten ungünstigen metakognitiven Überzeugungen angetrieben. Metakognitive Überzeugungen sind Überzeugungen über das Denken und werden hauptsächlich durch Erziehung und Sozialisation erworben. So kann man etwa überzeugt sein, dass man keine Kontrolle über das Grübeln hat, dass bestimmte Gedanken gefährlich sind, dass Grübeln hilft, die eigenen Probleme zu lösen, dass Sorgen-Machen hilft, sich auf zukünftige Unglücksfälle vorzubereiten oder dass ständiges Vergleichen mit anderen hilft, bessere Leistungen zu erbringen. Alle diese genannten Überzeugungen sind falsch und begünstigen psychisches Leid, im Extremfall sogar psychische Erkrankungen.
Ungünstige Metakognitionen stellen aber glücklicherweise kein unveränderliches Schicksal dar. Im therapeutischen Prozess kann man sich ihrer bewusst werden und sie allmählich in eine günstigere Richtung verändern. Dazu bedarf es der Bereitschaft, fundamentale Überzeugungen infrage zu stellen, sowie geduldiger Übung. Im Gegensatz zur klassischen kognitiven Verhaltenstherapie spielt jedoch der Inhalt der negativen automatischen Gedanken keine wichtige Rolle. Es geht ausschließlich um Veränderungen auf der Metaebene. Hilfreiche metakognitive Überzeugungen verbessern die Fähigkeit, das eigene Denken in konstruktiv-kreativer Weise einzusetzen, Aufmerksamkeit bewusst zu steuern und das Verhalten im Sinne der eigenen Werte effektiv zu lenken. Damit sind sie ein wichtiger Bestandteil der Lebenskunst.
Christlicher Glaube und Lebenskunst
Als Seelsorger und Theologe stelle ich mir die Frage, welche Bedeutung der christliche Glaube für ein gelingendes Leben hat. Recht verstanden ermöglicht der Glaube an die christliche Botschaft das Vertrauen auf ein unbedingtes Geborgensein in der Gemeinschaft mit Gott. Denn christlicher Glaube bedeutet das bewusste Anteilhaben am Gottesverhältnis Jesu. Und er entmachtet dadurch auch diejenige Angst des Menschen um sich selbst, die in seiner Todesverfallenheit wurzelt und ihn sonst immer wieder unmenschlich werden lässt.
Der Glaube als das Vertrauen auf Gott stellt so die erlösende Alternative zu jeder Form von Weltvergötterung dar, die zwangsläufig irgendwann in Verzweiflung umschlägt.
Der Glaube als das Vertrauen auf Gott stellt so die erlösende Alternative zu jeder Form von Weltvergötterung dar, die zwangsläufig irgendwann in Verzweiflung umschlägt. Im Glauben muss man sich nicht mehr um jeden Preis an endliche Güter festklammern und gewinnt die Freiheit, die Welt in ihrer Endlichkeit zu akzeptieren und vernunftgemäß und nachhaltig mit ihr umzugehen. Paulus spricht dabei von der "Freiheit der Kinder Gottes" (Röm 8,21).
Diese geschenkte Freiheit ist aus christlicher Sicht auch die entscheidende Voraussetzung für ein gelingendes Leben und für Lebenskunst. In dieser Freiheit muss man irdische Glückserfahrungen nicht mehr vergöttern, sondern kann sie dankbar als Gleichnisse für Gottes Liebe verstehen. Und man muss es nicht mehr verdrängen oder daran verzweifeln, dass alles Glück dieser Welt doch sehr zerbrechlich und vergänglich ist. Den Glauben hat man jedoch nicht als einen sicheren Besitz gleichsam in der Tasche, sondern immer nur unter Anfechtung. Christliche Existenz steht in dieser Welt in einem Kampf zwischen Glauben und Unglauben, der erst mit dem Tod aufhört.
Ein solches theologisches Verständnis von gelingendem Leben und Lebenskunst scheint mir, obwohl es nur im Glauben an die christliche Botschaft als zutreffend erkannt werden kann, gut vereinbar zu sein mit den genannten psychotherapeutischen Ansätzen. Es verlagert die Fragestellung jedoch auf eine tieferliegende Ebene und macht aus christlicher Sicht auf die spirituellen Rahmenbedingungen aufmerksam, von denen her eine achtsam-akzeptierende beziehungsweise losgelöst-distanzierte Haltung gegenüber belastenden Gedanken und Gefühlen möglich wird, auch angesichts fundamentaler existentieller Krisen und Bedrohungen.